Russlanddeutsche Kulturgeschichte

Hugo Wormsbecher

Mit dem Volk durch alle Härten gegangen

(Notizen über die sowjetdeutsche Literatur)

Veröffentlicht im Almanach „Heimatliche Weiten“, №1/1989

Das Jahr 1989 ist für uns Sowjetdeutschen ein Jubiläumsjahr: Vor 225 Jahren wurde unser Volk geboren. 1764 trafen die ersten deutschen Kolonisten auf Einladung der Zarenregierung im Wolgagebiet ein, und der Tag ihrer Ankunft in der öden Wolgasteppe wurde zum Geburtstag eines neuen Volkes auf der Erde, eines Volkes, das man einhundertdreiundfünfzig Jahre lang als „Rußlanddeutsche" bezeichnete und das nun bereits seit zweiundsiebzig Jahren als „Sowjetdeutsche" genannt wird.

In der kahlen, unwirtlichen Steppe mußten unsere Vorfahren den bevorstehenden Winter irgendwie überleben. Es mangelte an Baumaterial, die versprochenen Häuser waren nicht da, und so wurden fürs ersten Erdhütten gebaut... Jahre und Jahrzehnte mußten vergehen, ehe die Ansiedler aus Notunterkünften in Holz- und Backsteinhäuser einziehen konnten.

Ende des vergangenen und Anfang dieses Jahrhunderts standen Tausende und aber Tausende unserer Urgroßeltern vor einem zweiten Neubeginn: Der Mangel an Ackerboden veranlagte sie, nach Sibirien, Kasachstan und ins Orenburgische zu ziehen. Im Frühjahr wurden Vorbereitungen für die weite Reise getroffen, doch an Ort und Stelle war man wiederum erst vor Herbst- und Winteranfang, und man mußte sich abermals mit Erdhütten begnügen.

Zum dritten Mal (sieht man von der „Entkulakisierung" ab), im Jahre 1941, waren schon praktisch alle anderthalb Millionen Sowjetdeutschen gezwungen, abermals am Nullpunkt zu beginnen, als sie, durch den Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR beschuldigt, den Faschisten Hilfe geleistet zu haben, aus dem europäischen Teil des Landes in das leidgeprüfte, schmerzgeplagte Sibirien und in die weiten Steppen Kasachstans ausgesiedelt wurden. Der dritte Neubeginn war der schwerste von allen, weil diese Menschen nicht mehr willkommene Gäste waren, die den jungfräulichen Boden urbar machen sollten, sondern „Handlanger des Feindes"... Von einer Hilfe konnte diesmal keine Rede sein, diesmal wurde ihnen sogar das, was sie hatten, weggenommen.

Zwar gibt es offenbar die philosophische Entwicklungsspirale, doch unsere Geschichte wollte sich dem Gesetz nicht ganz fügen. Die Prozesse wiederholten sich, doch nicht unbedingt auf höherer Stufe...


Indem ich mich an diese Notizen über die sowjetdeutsche Literatur mache, bin ich mir dessen bewußt, daß sie in keiner Weise den Anspruch auf einen Abriß unserer Literaturgeschichte erheben können. Einen derartigen Abriß haben wir nicht und werden ihn wahrscheinlich noch längere Zeit nicht bekommen, ungeachtet dessen, daß unsere Literatur bereits ein ehrbares Alter erreicht hat und selbst ihre sowjetische Entwicklungsetappe mehrere Jahrzehnte zählt. Für einen derartigen Abriß muß zunächst der erste Schritt getan werden: Es gilt, eine Inventur unserer Literatur vorzunehmen (womit sich seit Jahren Woldemar Ekkert gründlich befaßt). Meine Aufgabe aber sehe ich als Mitgestalter dieser Literatur und als Redakteur des Almanachs, durch den heute der Hauptstrom der sowjetdeutschen Literatur fließt, darin, die Konturen unserer Literatur, eigentlich nur der Nachkriegsliteratur, zu entwerfen. Sie präzisieren, in Farben gestalten, Tiefen und Höhen bestimmen werden andere, das ist eine Aufgabe für die Zukunft. Über die Notwendigkeit einer solchen Zwischenstufe im Prozeß der Vorbereitung unserer Literaturgeschichte habe ich bereits im „Neuen Leben" geschrieben.1

Welchen Weg hat unsere Literatur in der Nachkriegszeit zurückgelegt? Wie steht es um sie heute? Hat sie Bedeutendes zu bieten? Mit welchen Schwierigkeiten sieht sie sich konfrontiert? Was ist für ihre weitere Entwicklung erforderlich? Das alles sind Fragen, die wir schon heute beantworten sollten.

Eine beliebige Erscheinung ist das Ergebnis bestimmter Entwicklungen, und um dieses Ergebnis besser zu begreifen, muß man den Boden kennen, der diese Entwicklung genährt hat, die Atmosphäre um diese Erscheinung ausloten. Unsere Literatur, obwohl sie fast auf keine Traditionen zurückblicken konnte, ist sehr „geschichtsbewußt". Die Geschichte der Rußland- und Sowjetdeutschen hat diese Literatur in die eigene Spur gezwungen, und sie macht die gleichen Kurven durch — den mühevollen Aufstieg und den jähen Fall; sie ist aufs engste mit der ganzen Sowjetliteratur verbunden, die ebenfalls einen Leidensweg hinter sich hat; unsere Literatur schöpft Kraft, wenn auch durch fast abgehackte Wurzeln, aus der vorrevolutionären rußlanddeutschen Literatur und der Literatur der 20er und 30er Jahre, deren Erbe sie übernommen hat und deren Werk sie weiterführt; und schließlich ist unsere heutige Literatur — wir schreiben jetzt Ende der 80er Jahre — aus der Nachkriegsliteratur erwachsen, die sich sehr lange nicht von dem ihr versetzten schweren Schlag erholen konnte. Ohne Berücksichtigung dieser Umstände, besonders der historischen, kann man unsere Literatur nicht verstehen. Daher müßten alle Zusammenhänge erst einmal aufgezeigt werden.

Doch meine Aufgabe wird dadurch erleichtert, daß der geschichtliche Hintergrund in diesem oder jenem Maße von mir bereits beleuchtet wurde, und zwar in meinem Artikel: „Die Sowjetdeutschen: Probleme und Hoffnungen",2 und die Geschichte der sowjetischen Literatur ist dem interessierten Leser nicht weniger gut bekannt als mir, daher darf ich wohl nur kurz auf die Geschichte unserer Literatur vor der Oktoberrevolution, die Literatur der 20er und 30er Jahre eingehen, um mich dann auf die Frage zu konzentrieren, die uns heute interessiert.

1.

Die Anfänge der rußlanddeutschen Literatur fallen in die Zeit der Übersiedlung unserer Vorfahren nach Rußland: Die Reisebeschreibungen sowie die ersten in der neuen Heimat gewonnenen Eindrücke, die von einem der Umsiedler, dem Offizier Bernhard von Plathen zu einem Poem verdichtet wurden, gelten zu Recht als das erste literarische Werk der deutschen Kolonisten in Rußland. Diese Tatsache hatte, wie die spätere Entwicklung zeigte, symbolhafte Bedeutung, sie wurde zum Sinnbild der künftigen engen Verbundenheit zwischen Literatur und Leben. Die Entste¬hung des Erstlings unserer Literatur noch auf dem Wege in die neue Heimat bedeutete die Entstehung einer neuen Literatur zusammen mit der Geburtsstunde des neuen Volkes.

Doch hier schimmert bereits das Los dieser Literatur durch: Die Literatur der deutschen Kolonisten wurde für ihre Vertreter — Dorfschreiber, Pastoren, Lehrer, bestenfalls Journalisten — für alle Zeiten ausschließlich zu einer Nebenbeschäftigung. Selbst heute können sich die sowjetdeutschen Literaten, von denen 20 Mitglieder des Schriftstellerverbandes sind, erst nach dem Übergang ins Rentenalter mehr oder weniger gründlich der Literatur widmen: Es mutet wie ein Paradoxon an — in einem zivilisierten Staat wird unter den heutigen Verlagsbedingungen und bei den bestehenden Honoraren kreatives Schaffen unserer sowjetdeutschen Literaten, für das eine gründliche Ausbildung und ein Talent erforderlich sind, so entlohnt, daß sie davon nicht leben können. Ein frappierender Unterschied zur Entlohnung eines Schippers oder eines Trolleybusfahrers.

Lange vor der Literatur der eigentlichen rußlanddeutschen Kolonisten gab es eine ziemlich entwickelte Literatur der Baltendeutschen. Beide bestanden später anderthalb Jahrhunderte lang nebeneinander, ohne dabei kaum in Berührung zu kommen. Die Baltendeutschen waren viel enger mit der Geschichte, Kultur und Literatur Deutschlands verbunden. Nennenswerte Leistungen hatte auch die deutschsprachige Literatur der beiden russischen Hauptstädte, Moskau und Petersburg, die sich ebenfalls ziemlich autonom entwickelte, aufzuweisen. Und schließlich sei der beachtliche Beitrag erwähnt, den Literaten deutscher Abstammung, die ihre Werke in russischer Sprache schrieben, zur russischen Literatur geleistet haben — D. I. Fonwisin, I. I. Chemnitzer, A. A. Delwig, W. K. Küchelbecker, L. I. Mey, Karoline Pawlowa, J. F. Rosen, W. I. Dal, E. I. Huber, E. B. Kulman u. a. Jede dieser Literaturen ist von Interesse und verdient es, näher betrachtet zu werden. Doch unser Thema verlangt, daß wir uns der eigentlichen rußlanddeutschen Kolonistenliteratur zuwenden.

Über ein ganzes Jahrhundert war diese Literatur ziemlich arm an Werken: Ackerbauer und Handwerker, die sich ihr Brot schwer verdienen mußten, konnten keine materielle, soziale und geistige Grundlage für die Entwicklung von Literatur und Kunst schaffen. Erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erfährt sie eine spürbare Entwicklung — zunächst in der Ukraine, in Odessa, später aber auch an der Wolga. Die meisten Werke, so auch die aus der Feder von Autoren, die mehrere Erzählungen und Romane verfaßt hatten, wiesen sich als „zaren- und vaterlandstreu" — anders konnte es wohl auch nicht sein — aus. Etwa um die Jahrhundertwende erstarken in der Literatur der Kolonisten demokratische Tendenzen. Zu den bedeutendsten Werken dieser Richtung gehören die Erzählungen des Pädagogen und Aufklärers August Lonsinger, der mit Meisterhand das Leben und die Sitten der Wolga-Kolonisten schilderte und der uns Musterbeispiele der urwüchsigen Bauernsprache in „Nor net lopper g'gewa" und „Hüben und drüben" sowie anderen Werken hinterließ.

Zum 150jährigen Bestehen der Wolgadeutschen Kolonien (1914) wurde das volksnahe Poem „Küster Deis" (Autor war David Kufeld) geschrieben, in dem neben der Lebensweise in den Kolonien ein grausamer Nomadenüberfall beschrieben wird. Aus Jubiläumsanlaß entstand auch das Stück „Der Kirgisenmichel..." von Gottlieb von Göbel und Alexander Hunger. Es handelt von dem ungewöhnlichen Schicksal eines von den Nomaden entführten und in die Sklaverei verkauften deutschen jungen Mannes, von der Liebe des kirgisischen Mädchens Sulejka, der Tochter des Wirts, zu ihm. Sulejka bringt ihre Liebe zum Opfer und verhilft dem Helden des Stücks zur Flucht.

Durch den großen Einfluß der Geistlichkeit auf das Kolonistenleben, deren Rolle auch in Bezug auf die Herausgabe von Zeitungen und Büchern gewaltig war, trägt die Kolonistenliteratur in der Zeit vor der Oktoberrevolution in der Regel einen unverkennbaren religiösen Stempel — höchstwahrscheinlich war das eine unerläßliche Voraussetzung dafür, daß das jeweilige Werk überhaupt erscheinen konnte.

In den ersten Jahren der Sowjetmacht wurde diese neue Macht aktiv durch die progressiven Schriftsteller unterstützt, vor allem durch die Begründer der sowjetdeutschen Literatur Franz Bach und Georg Luft. Doch in diesen Jahren waren keine bedeutenden Werke entstanden, nicht nur etwa deswegen, weil ein gewisser Zeitabstand erforderlich war, um die großen Ereignisse zu erfassen und darzustellen, sondern weil sowohl an der Wolga als auch im Süden der Ukraine, d. h. an Orten mit konzentrierter deutscher Bevölkerung, der Bürgerkrieg tobte, in dessen Strudel auch die Kolonisten einbezogen wurden. Allein die Wolgadeutschen stellten in den ersten Jahren der Sowjetmacht vier Regimenter auf, die an verschiedenen Fronten gegen die Weißgardisten sowie gegen die deutschen Okkupanten in der Ukraine kämpften.

Eines der ersten Werke, die den Weg zur Oktoberrevolution in den deutschen Kolonien (am Beispiel der Südukraine) zeigten, wurde die publizistische Erzählung „Oktoberfunken" von Georg Luft.

„Zwei Namen rangen um das Vorrecht, um die Führerschaft des Werktagsvolkes: der monatelang popularisierte, leere, nach rechts und links hin blickende Kometenname Kerenski, — die schmähliche Karikatur der Revolution; ihm machte strittig das Proletenführerrecht der bisher von uns streng verhüllte, zündende planetenhafte Name Lenin. Kerenski schwand und ward Hampelmann der Bourgeoisie. In uns wuchs Lenin immer mächtiger zur Losung und zur Kampfeswaffe."3

Als Beispiel ein weiteres Fragment:

„Der Armen ist der Sieg. Man wählt sofort noch in der Nacht den Revolutions-Sowjet. Wie wählt man ihn? Kein Mensch weiß die Struktur, kein Mensch kennt das Programm. Ach, Kleinigkeit: man wählt da den Sowjet der Arbeiter und Bauern und Soldaten (,Bolschewiki'). ,Sowjet' — ,Bolschewiki'. Ei, wie war dieser Guß in eins von Sowjet und Partei doch damals so gelungen, so richtig und so arbeitsfähig! Bedurfte es da einer speziellen Zelle, zum Kampf uns anzufeuern, zur Arbeit anzuspornen?"4

Welch Funken revolutionärer Zuversicht und Überzeugtheit sprüht dieses Werk!

Die sowjetdeutsche Literatur der zwanziger Jahre reagierte hellhörig auf Prozesse, die in der russischen Literatur vor sich gingen. Aktiv wird revolutionäre Poesie ins Deutsche übertragen. Vorbild für viele Dichter wird Majakowski. Große Bedeutung hat der persönliche Kontakt sowjet¬deutscher Literaten zu ihren russischen Kollegen. Sie haben Vorbilder vor Augen und sind bestrebt, diesen Vorbildern nachzueifern. Das hilft ihnen, den engen Rahmen der vorrevolutionären Kolonistenliteratur zu sprengen, deren Thematik zu erweitern und neue, bedeutendere Ideen hineinzutragen.

Zugleich aber hat die sowjetdeutsche Literatur auch negative Tendenzen des gesamtsowjetischen literarischen Lebens übernommen — die kompromißlose Spaltung und scharfe Trennung der Schriftsteller in gegeneinander kämpfende Gruppen, wobei anstelle der künstlerischen Kriterien oft politische Anschuldigungen traten. Ausschlaggebend ist bei der Bewertung des Schaffens dieses oder jenes Schriftstellers in der Regel dessen soziale Herkunft. Die ganze Dramatik wurde dadurch verschärft, daß die meisten Schriftsteller, genauer gesagt, die Literaten, noch ziemlich jung waren. Viele von ihnen machten ihre ersten Schritte in der Literatur und hatten ihre „Energie der Irrungen und Wirrungen" (L. Tolstoi) noch nicht verbraucht. Später, in den dreißiger Jahren, die für gesamte sowjetische Literatur voller Tragik waren, hat sich die Situation in der sowjetdeutschen Literatur durch Beschuldigungen, „faschistische Ideologie zu verbreiten", noch mehr verfinstert (schon allein die Liebe zur Muttersprache war ein schwerwiegendes Vergehen mit allen daraus folgenden Konsequenzen).

Zu Beginn der dreißiger Jahre wurden (wie überall im Lande) kurz vor der Eröffnung des I. Schriftstellerkongresses Versuche unternommen, die literarischen Kräfte zu konsolidieren. Im Dezember 1933 fand in Charkow eine Konferenz sowjetdeutscher Schriftsteller der Ukraine statt, im Februar des folgenden Jahres — eine Konferenz deutschsprachiger Schriftsteller der Wolgarepublik in Engels, im März 1934 versammelten sich die sowjetdeutschen Schriftsteller zu ihrer Ersten Unionskonferenz in Moskau, an deren Arbeit sich auch deutsche exilierte Schriftsteller aus Deutschland, Österreich und Ungarn beteiligten und auf der sich viele zum ersten Mal sahen und Bekanntschaften schlossen.

Vier sowjetdeutsche Schriftsteller — Franz Bach, Gerhard Sawatzky, Andreas Saks und Gottlieb Fichtner — waren Teilnehmer des I. Unionskongresses der Sowjetschriftsteller.

In den dreißiger Jahren haben exilierte Schriftsteller, die aus dem faschistischen Deutschland und aus Österreich fliehen mußten und sich in der Sowjetunion niederließen, einen gewissen Einfluß auf die sowjetdeutsche Literatur ausgeübt. Solche bekannten Schriftsteller und Dichter wie Johannes R. Becher, Willi Bredel, Erich Weinert, Hugo Huppert, Friedrich Wolf, Franz Leschnitzer, Adam Scharrer, Hedda Zinner, Berta Lask sowie die Ungarn Bella Illes, Andor Gabor und Alexander Barta haben aktiv den literarischen Prozeß in der sowjetdeutschen Literatur mitgeprägt. Sie nahmen an Schriftstellerversammlungen teil, rezensierten Werke sowjetdeutscher Schriftsteller, standen ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Eine Reihe von Emigranten verbanden ihr Schicksal für längere Zeit oder gar für immer mit der sowjetdeutschen Literatur (Sepp Österreicher, Franz Leschnitzer, Ernst Fabri, Simon Ellenberg, Rudolf Jacquemien, Hilde Anzengruber)5.

Bereits in den zwanziger Jahren begann sich in der sowjetdeutschen Literatur immer stärker eine ihrer wesentlichen Besonderheiten bemerkbar zu machen, nämlich daß sie in ihrer Entwicklung von drei Literaturen — der deutschen klassischen Literatur, der russischen Klassik und der multinationalen Sowjetliteratur — Erfahrungen und Leistungen aktiv nutzen kann. Diese einmalige, in keiner anderen sowjetischen Literatur vorkommende Möglichkeit, aus drei Quellen zu schöpfen, resultiert daraus, daß die sowjetdeutschen Schriftsteller und Dichter in ihrer Mehrheit außer ihrem heimatlichen Dialekt auch noch die deutsche Literatursprache, die russische Sprache und manchmal sogar eine Sprache der Völker der UdSSR souverän beherrschen. Man kann sich denkbar leicht vorstellen, welche Blüte die Literatur der Sowjetdeutschen bis zu den 50er und 60er Jahren erreicht hätte, wenn man ihren verheißungsvollen Start in den 30er Jahren, der den Atem verhalten ließ, als Ausgangspunkt betrachtet. Doch die Erwartungen gingen nicht in Erfüllung. In der zweiten Hälfte der 30er Jahre fielen alle sowjetdeutschen Schriftsteller der Ukraine und die meisten Wolgadeutschen Literaturschaffenden, die begabtesten übrigens, unbegründeten Repressalien zum Opfer...

Die meisten Werke der Vorkriegszeit sind dem heutigen Leser unbekannt, da sie in den letzten 48 Jahren (sieht man von einzelnen Gedichten, Erzählungen und Prosa-Fragmenten im ersten Band der Anthologie und einigen Zeitungsveröffentlichungen ab) nicht neu verlegt wurden. Zu den bedeutendsten Leistungen bis zum heutigen Tage gehört der Roman „Wir selbst" von Gerhard Sawatzky. An diesem großen Roman (er hat einen Umfang von 50 Druckbogen) arbeitete der Autor mehrere Jahre. Einige Kapitel daraus wurden in Zeitungen und Zeitschriften jener Jahre veröffentlicht, doch vor dem Krieg konnte der Roman nicht erscheinen. Berichten von Sawatzkys Zeitgenossen zufolge war das Werk schon gesetzt, doch der Autor, der das Vorausexemplar eines Morgens 1938 zur Durchsicht bekommen sollte, hat es nicht mehr gesehen. Und niemand sah es. 44 Jahre später ist es mir mit Hilfe von Woldemar Ekkert gelungen, die Witwe des Schriftstellers, die damals in Krasnojarsk lebte, zu finden. Es stellte sich heraus, daß sie all die für sie sehr schweren Jahre die einzige in unserer großen Welt erhaltengebliebene Kopie des maschinengeschriebenen Romantextes aufbewahrt hatte. Erst nach längerem inneren Kampf vertraute sie das Manuskript der Redaktion des Almanachs „Heimatliche Weiten" an, wo es dann auch in den Jahren 1984-1988 in vollem Umfang veröffentlicht wurde.

Den Roman kann man wohl als sowjetdeutsches „Neuland unterm Pflug" bezeichnen. Doch wird darin nicht nur der Prozeß der Kollektivierung im Wolgadeutschen Dorf aufgezeichnet; genauso gründlich und ausführlich werden die sozialen Prozesse in der Stadt, die Herausbildung und die Entwicklung der neuen Produktionsbeziehungen in der Industrie geschildert, wobei diese Prozesse durch das Schicksal der vielzähligen handelnden Personen dargestellt werden. Dieses überdimensionale Werk entrollt vor uns ein gewaltiges Bild des Lebens aller Schichten der Gesellschaft seit dem Großen Oktober und bis in die dreißiger Jahre hinein. Als handelnde Personen fungieren Vertreter der ehemaligen Bourgeoisie und der alten technischen Intelligenz, Händler, Kulaken, einfache Arbeiter und Bauern, die das neue Leben zu Hauptfiguren des Geschehens im Sowjetland gemacht hat. Die Vielzahl der handelnden Personen, ihre soziale Mannigfaltigkeit sowie die Aufgabe, die sich der Autor gestellt hat, in einem Kunstwerk den Prozeß der Demontage alter und die Herausbildung neuer Produktionsverhältnisse, dazu noch in der Stadt und auf dem Lande, den Mechanismus dieser Verhältnisse in Aktion zu zeigen - all das barg die Gefahr in sich, in Schematismus, Vordergründigkeit und Oberflächlichkeit bei der Schilderung der komplizierten Erscheinungen jener Jahre zu verfallen. Doch Sawatzky ist dieser Gefahr erfolgreich entronnen: Selbst die „kunstfeindlichsten" Ereignisse, jene, die auch vierzig Jahre später die so genannten „Produktionsromane" außerhalb der Kunst landen ließen, sind bei ihm von lebensechten menschlichen Beziehungen und Interessen durchdrungen und entwickeln sich durch Kampf und Konflikte.

Freilich, bei fehlenden Erfahrungen in der sowjetdeutschen Literatur, derartig gewaltige Bilder zu entrollen (worauf schon in den Schriftstellerkonferenzen vor dem I. Unionskongreß verwiesen wurde) war kaum damit zu rechnen, daß Gerhard Sawatzky die damit verbundenen Schwierigkeiten restlos überwinden würde. Der heutige Leser, der mit den Spitzenleistungen der sowjetischen Literatur der vergangenen siebzig Jahre und insbesondere mit den in jüngster Zeit veröffentlichten Werken bekannt ist, wird in diesem Roman wohl nicht wenige schwache Stellen entdecken: Alternativlosigkeit und Apologie der offiziellen Politik in den Bereichen Klassenkampf und durchgängige Kollektivierung, stark ausgeprägte Eindeutigkeit der handelnden Personen, ihre Abhängigkeit von der Klassenzugehörigkeit bei der Beurteilung durch den Erzähler, zu starkes Auftragen düsterer Farben bei der Charakterisierung der so genannten negativen Figuren, Übernahme von zeitbezogenen Klischees bei der Schilderung des „alten Spezialisten" als eines selbstverständlichen Gegners der neuen Ordnung, übermäßige Detaillierung bei der Schilderung der Ereignisse und der Gemütsregungen der Helden usw.

Doch wir sehen erst heute, daß es offensichtliche Mängel sind. Damals stimmte alles, alles war obligatorisch, und wer schrieb schon anders? Selbst wenn der Schriftsteller nicht überzeugt war, daß alles mit rechten Dingen zuging, konnte er dennoch nicht anders schreiben. Den Schriftsteller und sein Schaffen muß man vor dem Hintergrund der Epoche bewerten. Sobald wir diesem Prinzip folgen, so können selbst diese Mängel des Romans von Gerhard Sawatzky für den Forscher ins Positive umschlagen, denn sie sind eine Spiegelung der Epoche, ihres Geistes, ihrer Verirrungen und Tragik, sie dokumentieren den Entwicklungsgrad des gesellschaftlichen Lebens, der sowjetdeutschen Literatur und ihrer Leser in der damaligen Zeit. Unbestritten scheint mir aber folgendes zu sein: Der Roman ist ein Beweis für ein enormes künstlerisches und episches Talent des jungen Autors, und der Umstand, daß Gerhard Sawatzkys Schaffen und etwas später auch das Leben des Autors so früh erloschen, ist als empfindlicher Verlust für die sowjetdeutsche Literatur, vielleicht aber auch nicht nur für sie allein, zu bewerten...

Zu den bekanntesten Schriftstellern der Vorkriegszeit gehören, außer den genannten, David Schellenberg (1903-1954), der Autor der unvollen¬deten Roman-Trilogie „Lechzendes Land" sowie einer Reihe weiterer Werke; Christian Ölberg (1889-1942), der erste Vorsitzende der Schriftstellerorganisation der ASSR der Wolgadeutschen, Direktor des Deutschen Staatsverlags in Engels und Autor der größeren Erzählungen und Novellen „An der Wolga", „Das Dorf marschiert", „Fritz wird Rotarmist", „Die neue Brigade" u. a.; Adam Reichert (1869-1936), der Chefredakteur der Republikzeitung „Nachrichten"; Gottlieb Schneider (1893-1941) — Mitarbeiter der Tscheka, Parteifunktionär, Volkskommissar für Landwirtschaft der Republik, Verfasser der Großerzählungen „Banditen", „Der Umsturz", „Der Steinkippel" u. a.; Franz Schiller (1898-1955), ein im ganzen Lande bekannter Literaturwissenschaftler, Fachmann für westeuropäische Literaturen (mehrere Monographien und zahlreiche Artikel erschienen in russischer Sprache); Johannes Schaufler (1909-1935), Autor einiger Erzählungen und Gedichte, u. a.

Das 1931 in Engels gegründete Deutsche Staatstheater brauchte Stücke über das neue Leben der Kolonisten. Das erste Stück dieser Art — „Die Quellen sprudeln" — schrieben Andreas Saks und Paul Kufeld. Es war ganz im Geiste der Zeit gehalten und galt praktischen Aufgaben — der Steigerung der Tierproduktion in der Republik. Mit der Zeit profilierte sich Andreas Saks zum führenden Bühnenautor des Theaters. Aus seiner Feder stammen außerdem „Pater Wutzkis Höllenfahrt", das Märchenspiel „Fritz wird ein Held", das historische Stück „Franz Kraft", das Drama „Der eigene Herd" u. a.

In den letzten Jahren vor dem Krieg gab die sowjetdeutsche Literatur viele ihrer Positionen auf. Hauptgrund: Die Vertreter der älteren Generation und der Generation, die gleich nach der Oktoberrevolution in die Literatur eingetreten war, waren nach den Schrecken und den Repressalien der dreißiger Jahre entweder nicht mehr am Leben oder der Möglichkeit beraubt, neue Werke zu schaffen. So beging Paul Rau bereits 1930 Selbstmord, 1934 wurde Johann Janzen repressiert, 1935 starb Johannes Schaufler, ein Jahr später — Adam Reichert, Mitte der dreißiger Jahre wurden Karl Schmidt und David Schellenberg Repressalien ausgesetzt, 1937 ereilte das gleiche Schicksal Franz Bach sowie Hans Hansmann, Peter Petermann und Ernst Kontschak (alle drei wurden in ein und derselben Angelegenheit vors Gericht gestellt und der „Bezie¬hungen zur ausländischen Bourgeoisie, der Vorbereitung eines bewaffne¬ten Aufstandes gegen die Sowjetregierung und antisowjetischer Tätigkeit" beschuldigt); im gleichen Jahr 1937 hat unsere Literatur Georg Luft, Gottlieb Fichtner, Reinhold Haan, Woldemar Repp verloren, 1938 wurden Gerhard Sawatzky und Franz Schiller verhaftet, 1939 schieden Peter Petermann und Hans Lohrer, ein Jahr später — Adam Emich aus dem Leben.

Selbst eine große Literatur, wären ihr auf einmal so viele Schriftstel¬ler geraubt worden, würde sich wohl kaum von einem derartigen Schlag erholen können. Hier aber handelte es sich um eine kleine Literatur, in der die aufgezählten Schriftsteller in der Regel nicht nur zu den besten Vertretern dieser Literatur gehörten, sondern etwa die Hälfte der Schreibenden ausmachten.

Ein überaus harter Schlag wurde der sowjetdeutschen Literatur auch noch dadurch versetzt, daß in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre in der Ukraine, wo die Mehrheit der Sowjetdeutschen lebte, nicht nur alle deutschen Schulen geschlossen, Lehrer repressiert, der Unterricht auf Russisch umgestellt, alle Schriftsteller in Gefängnisse geworfen wurden, sondern auch alle deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr erscheinen durften. Das gleiche Bild war auch für die deutschen Rayons im ganzen Lande kennzeichnend; nationale Schulen, Presseorgane bestanden nur noch in der ASSR der Wolgadeutschen — bis 1941.

Der Rückgang der Aktivität der sowjetdeutschen Literatur resultierte auch daraus, daß die Vertreter ihrer jüngsten Generation, die gewissermaßen ein Produkt der dreißiger Jahre waren, am Anfang ihrer literarischen Laufbahn standen und ihre ersten Schritte auf dem beklem¬mend schmalen thematischen Pfad der sowjetdeutschen Literatur machten (ein Schritt nach links oder nach rechts bedeutete den sicheren Tod). Sie haben weder in den dreißiger Jahren noch später die Möglichkeit bekommen, darüber zu schreiben, was sie bewegte.

2.

Durch den Kriegsbeginn, die Auflösung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, die Aussiedlung der Deutschen aus der Ukraine, von der Krim, aus dem Wolgagebiet, dem Kaukasus, aus Moskau und Leningrad nach Sibirien und Kasachstan unterbrach die Entwicklung der sowjetdeutschen Literatur für mehrere Jahre. Die Kriegszeit, die Jahre des Arbeitsdienstes, als die gesamte erwachsene deutsche Bevölkerung — Männer wie Frauen — in Lagern hinter Stacheldraht war, wo Tausende und aber Tausende ums Leben kamen, waren nicht nur Jahre, da nichts erscheinen konnte. Es waren Jahre tiefen Schweigens, obwohl einige Schriftsteller am Leben blieben. Beim Holzschlag in der Taiga war Woldemar Herdt, bei den Uraler Holzflößern arbeitete Woldemar Spaar, in der Arbeitsarmee waren Victor Klein und Andreas Saks, Bademeister im Lager war Dominik Hollmann, an der Nord-Dwina bei Archangelsk arbeitete im Frauenlager Rosa Pflug, aus dem Gefängnis in die Arbeitsarmee wurde Sepp Österreicher überführt, von der Front wurden Andreas Kramer und Alexander Brettmann abberufen und in ein Lager eingewiesen, im Hohen Norden büßten ihre Strafe Ernst Kontschak, David Schellenberg, Nora Pfeffer und der aktive Teilnehmer des Bürgerkrieges Reinhard Köln ab.

Der Übergang vom überschäumenden Optimismus der ersten Jahre der Sowjetmacht, dem die Menschen trotz der schrecklichen Hungersnot des Jahres 1921, trotz der Wogen der rücksichtslosen Gewaltanwendung von beiden Seiten in den Jahren des Bürgerkrieges, trotz des rasenden Tempos der durchgreifenden Kollektivierung und der zweiten Hungersnot im Jahre 1933, trotz der steigenden Flut der Repressalien der dreißiger Jahre die Treue hielten; der Übergang vom unerschütterlichen Optimismus, der für viele aus der Anziehungskraft der „großen, zukunftsweisenden und so einfachen und verständlichen Ideen der Revolution“ resultierte; der Übergang von einem solchen Optimismus, der noch irgendwie durch die Erfolge der Wolgadeutschen Republik in Wirtschaft und Kultur gerechtfertigt wurde, — zur Tragödie des Erlasses vom 28. August 1941, zur Arbeitsarmee, zu Straflagern wurde trotz dieser bei weitem nicht besten Vergangenheit zu einem derart gewaltigen Schlag, zu einer derart gewaltigen Erschütterung, daß die Menschen eigentlich alle Hoffnung fahren lassen mußten. Konnte die Hand unter diesen Verhältnissen noch zur Feder greifen?

Doch ein Schriftsteller bleibt ein Schriftsteller, solange er atmet. Im Heft 2/1988 des Almanachs „Heimatliche Weiten" wurden mehrere Gedichte von Woldemar Herdt veröffentlicht, zu denen auch Gedichte gehören, die im Arbeitslager entstanden sind. Es stellte sich heraus, daß Woldemar Herdt dort nicht nur Gedichte zu schreiben versuchte, sondern auch ein Tagebuch führte. Das wurde natürlich dem Kommandanten zugetragen. Zum Glück beherrschte dieser die deutsche Sprache nicht, und seine Mitarbeiterin, ein russisches Mädchen, das sich freiwillig meldete, die Eintragungen zu lesen, sorgte für eine Bewertung, die den Autor vor weiteren Unannehmlichkeiten rettete. Statt das Tagebuch zu verbrennen, denn sie durfte es dem Autor selbstverständlich nicht zurückgeben, bewahrte sie das Heft bei sich zu Hause auf. Zwanzig Jahre nach der Arbeitsarmee besuchte Woldemar Herdt jene Gegend und traf dort zufällig diese Frau. Zu seinem Staunen überreichte sie ihm das Tagebuch von damals...

Ohne Hoffnung, ihre Aufzeichnungen jemals veröffentlicht zu sehen, schrieben auch Friedrich Bolger, Edmund Günther, Andreas Kramer, David Wagner, Alexander Reimgen... Nur ab und zu erschienen ihre Artikelchen in Arbeitsfrontler-Zeitungen.

Dann war der Krieg zu Ende. Die sehnlichste Hoffnung der Arbeitsfrontler, die sich in ihren Lagern das Recht erkämpft hatten, nicht „zur Tilgung ihrer Schuld", sondern wie das ganze Sowjetvolk, unter dem Motto „Alles für die Front, alles für den Sieg" zu arbeiten; die Hoffnungen der Arbeitsfrontler, die durch ihre heldenhafte Arbeit, durch Tausende und aber Tausende für den Sieg hingeopferter Leben bewiesen hatten, daß nicht nur die gegen sie erhobenen Anschuldigungen des Erlasses von 1941, dem Feind geholfen zu haben, sondern auch jeder Verdacht hinsichtlich der Möglichkeit einer solchen Zusammenarbeit völlig ungerecht und unbegründet waren; die Hoffnungen der Arbeitsfrontler, daß diese Beschuldigungen aufgehoben, ihre Autonomie und die nationalen Rayons wiederhergestellt und sie wieder in die alte Heimat zurückkehren würden — diese Hoffnungen zerbrachen beim Anprall gegen die Wand des Mißtrauens. Der Sieg brachte ihnen die Gerechtigkeit nicht, sie mußten dort bleiben, wo sie heranklotzten, nur statt der Wachtürme und des Stacheldrahts wurde ein anderes System eingeführt, die Menschen in der Kolonne zu halten — die Sonderkommandantur und Sondersiedlungen. Ein Schritt aus der Reihe, „ein Schritt nach links oder nach rechts", bedeutete jetzt nicht mehr Hinrichtung ohne Warnschuß, sondern „lediglich" 20 Jahre Zwangsarbeit...

Die Arbeitsarmee bestand im wesentlichen bis 1947, die Sondersiedlungen existierten bis 1955. In all diesen Jahren hatten die Sowjetdeutschen keine einzige Zeitung (vor dem Kriege erschienen allein in der Wolgadeutschen Republik 21 Zeitungen), es wurde kein einziges Buch herausgebracht (vor dem Kriege wurden allein innerhalb von drei Jahren 555 herausgegeben). Das einzige Buch, das das Volk besaß, war die Bibel, heilig nicht nur durch den Trost, den sie spendete, nicht nur durch die Aufzählung von teuren Namen (die Bibel war oft auch eine Art Reliquie, darin wurden von Generation zu Generation Namen, Geburtsdaten, Daten der Taufe, der Konfirmation/Kommunion, Sterbetage eingetragen), dieses Buch war zweifach und dreifach heilig, und vor allem deswegen, weil es das einzige Buch in der Muttersprache war. Konnte denn Martin Luther ahnen während seiner titanischen Arbeit zur Übertragung der Bibel in „sein geliebtes Deutsch", welch geradezu materielle Bedeutung jedes glühende, dem Volk abgelauschte Wort des Buchs der Bücher nach Jahrhunderten in dem ihm unbekannten fernen Sibirien haben würde?..

Der Krieg war längst zu Ende, auch die Sonderkommandanturen endlich aufgelöst. Doch die sowjetdeutsche Literatur gab nach wie vor kein Lebenszeichen von sich. Wie sollte sie auch, nach derart gewaltigen Verlusten? Nur einer von den sowjetdeutschen Schriftstellern fiel direkt an der Front — Christian Ölberg, der 1942 als Volkswehrmann bei Moskau ums Leben kam. Die übrigen hatten ein anderes Schicksal. Aus der Arbeitsarmee sind nicht zurückgekehrt, die Aufhebung der erniedrigenden Sonderaufsicht haben nicht erlebt: Franz Bach (seine Ruhestätte fand er auf einer Bergkuppe in Schorien im Mai 1942); Gerhard Sawatzky (gestorben 1944 in Solikamsk); im Jahre 1944 starben Hans Hansmann (Johannes Kellermann) und Friedebert Fondis; 1951 verschied Hermann Bachmann; 1953 erlosch am Himmel der sowjetdeutschen Literatur noch ein Stern — es starb der einst sehr populäre Schriftsteller, der das Gute, das Wahre, Vernünftige gesät hatte, der noch in den dreißiger Jahren geknebelte August Lonsinger; im darauf folgenden Jahr starb David Schellenberg in Magadan.

Noch mehrere Jahre nach Kriegsende waren Reinhard Köln, Ernst Kontschak und Nora Pfeffer in Gefängnissen und Verbannung (verbannt war ja eigentlich das gesamte sowjetdeutsche Volk). In Sibirien sah sich Andreas Dulson, Dialektforscher von Weltruf, gezwungen, die Erforschung der Wolgadeutschen Mundarten an den Nagel zu hängen; er widmete sich dem Studium der Sprache der Keten, einer kleinen sibirischen Völkerschaft, wofür er später mit einem Staatspreis der UdSSR geehrt wurde. Im Jahre 1955 starb ein anderer Wissenschaftler von Weltruf — Franz Schiller. Und wie viel blieben am Leben von den über 500 Angehörigen der Intelligenz aus der ASSR der Wolgadeutschen, die mit einem Zug Anfang des Krieges nach Ostsibirien gebracht wurden und dort Holz fällen mußten (Franz Bach war gerade mit diesem Zug gekommen und hielt nur wenige Monate durch)6? Irgendwohin verschwand vor Kriegsende aus den Arbeitslagern die Partei- und Staatsfüh¬rung der Wolgadeutschen Republik.

Bedenkt man, daß Tausende und aber Tausende Sowjetdeutsche während der Aussiedlungsaktion, auf dem Weg nach Sibirien und Kasachstan, umkamen; daß Hunderttausende durch die über ihre Kräfte gehende Arbeit und Hunger infolge des stalinschen Genozids in der Arbeitsarmee starben; daß Zehntausende Minderjähriger und Greise, ihrem Schicksal ohne Existenzmittel, ohne warme Kleidung sowie ohne die Kenntnis der Sprache der neuen Nachbarvölker überlassen, nach der Mobilisierung aller Männer und Frauen arbeitsfähigen Alters (Frauen ab 16 und Männer ab 15 Jahre) im ersten und zweiten Winter starben (siehe die Erinnerungen an jene Zeit „Mit Moskau im Herzen"7 von Friedrich Süptitz und „Prokopjewsk, Arbeitsarmee" von Professor David Penner)8; vergißt man nicht, daß einige Hunderttausend Sowjetdeutsche, die in der Ukraine lebten, unter deutsche Besatzung gerieten und beim Rückzug der Hitlerarmee nach Deutschland verschleppt wurden und daß sich viele von ihnen nach dem Krieg in den westlichen Okkupationszonen befanden, woraus ein Teil später nach Nord- und Südamerika sowie nach Australien ging; wenn man nicht vergißt, daß die Sowjetdeutschen nach dem Krieg von Magadan bis zum Ural so zerstreut waren, daß viele noch heute einander suchen, — so kann man sich wohl mehr oder weniger klar die moralische Verfassung des sowjetdeutschen Volkes und seine Probleme sowie Probleme seiner Literatur vorstellen.

Wenn wir heute mit Recht davon sprechen, daß die Repressalien der dreißigervierziger Jahre alle sowjetischen Völker betrafen und sie heute noch belasten, besonders die ältere Generation, von der viele Menschen zu spüren bekommen haben, was das bedeutet — Lager und Gefängnis, — was läßt sich da über die Sowjetdeutschen sagen — über ein Volk, das vollzählig, praktisch ausnahmslos Repressalien ausgesetzt war, in Gefängnissen und Arbeitslagern schmachten mußte (in letzteren begingen einige Menschen sogar „Zweckverbrechen", damit man sie zu den Sträflingen schickte, die es doch etwas leichter hatten) und seine Angehörigen sich außerdem noch zwanzig Jahre nach Kriegsende an ihren früheren Heimatorten, aus denen sie ausgesiedelt worden waren, nicht niederlassen durften, und... Wer kann all die „und" aufzählen? Wer kann den ganzen Schmerz, die ganze Tragödie veranschaulichen?

Fast fünfzig Jahre lang wurde einem ganzen Volk die Möglichkeit genommen, den anderen sowjetischen Völkern über sein Schicksal zu berichten, zu sagen, daß es nichts gemein hatte mit dem gemeinsamen Feind, daß seine Söhne ebenfalls im Kampf gegen diesen Feind fielen, genauso wie die Söhne der anderen Völker, daß es keine Schuld trägt, daß es aller Vernunft widerspricht, dieses Volk, das einzige von allen Völkern der Welt, den zweiten Weltkrieg immer noch sühnen zu lassen. Unser Land hat viel getan für das Volk der DDR, hat viel geleistet, damit die Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern erstarken konnte; in jüngster Zeit hat sich das Verhältnis zwischen unserem Land und der BRD zum Besseren gewendet, wir streben jetzt menschliche, freundschaftliche Beziehungen zum Volk der Bundesrepublik Deutschland an; Wärme und aufrichtiges Staunen kennzeichnen unser Verhältnis zu den Japanern; uns erfüllt der Ausbau der kulturellen und anderer Beziehungen zu Italien mit Genugtuung. Dabei ging der Krieg gerade von diesen Ländern aus. Warum sollen es gerade die Sowjetdeutschen sein, die die Verantwortung für diesen Krieg zu tragen haben? Was haben sie denn verschuldet? Haben denn sie den Krieg vom Zaune gebrochen? Oder waren vielleicht es die sowjetischen Koreaner im Fernen Osten, die ebenfalls ausgesiedelt worden waren? Oder die Krimtataren?

Ich glaube, jeder normale Mensch versteht: Es gibt in unserem Land keine Völker, die die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg zu tragen hätten. Aber es gab und gibt noch Menschen hierzulande, die ihr Unvermögen, dem eigenen Land und Volk ein freies, ruhiges und sattes Leben zu sichern, die ihre Unfähigkeit, das eigene Land und das Volk vor Kriegen, kolossalen Verlusten und Zerstörungen zu bewahren, immer zur Schuld anderer machten. Und schuldig waren, herhalten mußten alle: Jene, die „nichtproletarischer Abstammung" waren; jene, die ungeachtet der Verordnungen, daß es keinen Gott gibt, auch weiterhin an seine Allmacht glauben; jene, deren Wissen und Fähigkeiten die der an den Machthebeln Sitzenden wenigstens um einen Deut überragen; jene, die immer noch an der Sprache hängen, die der „Vater der Völker" und dessen Helfershelfer nicht beherrschen; jene, die wegen der Unfähigkeit „des Oberbefehlshabers" zu Millionen in Gefangenschaft geraten waren in den ersten Kriegsmonaten... Alle sind schuld, alle haben zu zittern, jeder hat zu wissen, daß er jeden Augenblick eingesperrt werden kann.

Dieses System des totalen Schuldverdachts und dementsprechend des totalen Mißtrauens, das darauf abzielte, die Machtpositionen jener zu sichern, die sich aufs Podest geschwungen haben, — dieses System ist auch die Hauptursache für die ehemaligen Massenanschuldigungen. Weiter aber beherrschte Trägheit die Situation, denn an dem System etwas ändern zu wollen, bedeutete an ihm zu rütteln, seine Vollkommenheit in Frage zu stellen, und von dieser Ketzerei bleibt nur noch ein Schritt zur Bezweiflung der Rechtmäßigkeit der Machtausübung durch die an den Entscheidungshebeln Sitzenden. Doch Millionen Menschen zu beweisen, daß alles mit rechten Dingen zugeht, wenn das Bakschisch für die Erziehung von „Treue" und „Ergebenheit" nur für die Nächsten reicht, ist ein aussichtsloses Unterfangen...

Nun sind andere Zeiten gekommen, wir erleben heute eine entschlossene Demontage dieses Systems, also werden wir auch eine richtige, nicht formale Rehabilitierung der Völker erleben, die immer noch wegen der unbegründeten, vor einem halben Jahrhundert gegen sie erhobenen Anschuldigungen leiden müssen.

Doch kehren wir noch einmal in jene Zeit, zu jenem Thema zurück, von denen wir uns etwas entfernt haben. Versuchen wir, den Zustand der sowjetdeutschen Literatur im Jahre 1955, d. h. unmittelbar vor ihrem Neubeginn, zu charakterisieren.

Die Literaturkader wurden fast vollzählig vernichtet. Von den alten Schriftstellern, die aus der Intelligenz stammten, war niemand am Leben geblieben. Von den 30- bis 40jährigen, die sich vor dem Kriege mit einigen Werken gemeldet hatten, waren nur noch Andreas Saks und Dominik Hollmann am Leben. Weniger bekannt aus der gleichen Generation waren Ernst Kontschak, Sepp Österreicher, Reinhard Köln, David Löwen, Heinrich Kämpf, Johann Janzen. Von den jüngeren, die vor dem Kriege 25 bis 30 Jahre alt waren und ihre ersten Schritte machten, blieben nur sehr wenige am Leben: Victor Klein, Herbert Henke, Woldemar Ekkert, Leo Fritz, Karl Welz. Diejenigen aber, die vor dem Krieg noch jünger waren, konnten 1955 wohl kaum als Schriftsteller bekannt gewesen sein.

Die Schriftsteller, die vor dem Kriege die Entwicklung unserer Literatur bestimmt hatten, waren alle weg. Es gab auch keine Berufsschriftsteller mehr, die Schreibenden der ersten Nachkriegszeit waren in der Regel Lehrer, Literatur war für sie eine Nebenbeschäftigung. Die Vertreter der älteren Generation der Nachkriegsschriftsteller stammten vorwiegend aus bäuerlichen Verhältnissen oder aus Arbeiterfamilien, ihre ersten schriftstellerischen Versuche machten sie in schweren Zeiten, sie mußten durch alle Härten des Lebens gehen und konnten gewöhnlich keine gediegene Bildung erhalten. Besser bestellt war es um die Bildung der mittleren Generation, doch ihr Weg in die Literatur wurde ganz am Anfang folgenschwer belastet, so daß sie ihre schriftstellerische Betätigung unterbrechen mußten, und zwar für viele Jahre, was ihren Neubeginn zwangsläufig ebenfalls belasten mußte. Noch schwerer war die nächste Generation betroffen: Bis Kriegsbeginn waren sie meist noch Studenten an Hochschulen und konnten dementsprechend so gut wie nichts in der Literatur geleistet haben. Dabei ist zu bedenken, daß es sich mit der Schriftstellerei genauso verhält wie mit der Sprache der Kinder — je später man zu sprechen beginnt, desto mehr Schwierigkeiten lauern auf dem Wege.

Also hatten sich unsere Schriftsteller ausnahmslos tüchtig ins Zeug zu legen, um für ihre Familien den Lebensunterhalt zu verdienen, als Literaten wieder in Gang zu kommen bzw. die ersten Schritte zu machen.

Miserabel sah es mit Druckmöglichkeiten aus. Es gab im Lande keinen Verlag, keine Zeitschrift, ja nicht einmal eine Zeitung, in denen die sowjetdeutschen Literaten ihre Werke (falls es solche gab) hätten veröffentlichen können. Nicht zu vergessen ist ferner, wie man sich nach dem Krieg zu den Deutschen verhielt, als bei jedem Sowjetmenschen noch das Herz blutete und das Wort „Deutscher" nach wie vor „Feind" bedeutete. Es hatte den Anschein, die sowjetdeutsche Literatur würde nie aus der Asche steigen.

3.

Ende 1955 wurden die Kommandanturen, die über die Sowjetdeutschen zu wachen hatten, aufgelöst. Im Dezember gleichen Jahres erschien in Barnaul, dem Regionszentrum des Altai, ein kleines Blatt — die erste Nachkriegszeitung in deutscher Sprache. Der Titel — „Arbeit" — war ohne besondere Phantasie gewählt, doch ideologisch war er einwandfrei. Nach anderthalb Jahren (April 1957) ging die Zeitung ein, dafür aber begann im Rayon Slawgorod derselben Region Altai unter dem Titel „Rote Fahne" eine Zeitung gleichen Formats zu erscheinen, und im Rayonzentrum Snamenka (ebenfalls Region Altai) wurde die Zeitung „Arbeitsbanner" gegründet, die 1959 einging. Die „Rote Fahne" wird auch heute noch herausgegeben.

Die „Arbeit" wurde unter der sowjetdeutschen Bevölkerung bald recht populär. Ihr Chefredakteur — Pestow — war ein Russe. Bis dahin hatte er in Berlin gearbeitet, wo er stellvertretender Chefredakteur der Zeitung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland „Tägliche Rundschau" war. Als Russe, dazu noch mit europäischen Erfahrungen, konnte er sich natürlich viel mehr leisten als ein beliebiger deutscher Redakteur. Wahrscheinlich ist darin auch die Ursache für den heranreifenden Konflikt zwischen der Redaktion und den örtlichen Machtorganen zu suchen. Dennoch vermochte die Redaktion, in wenigen Monaten ein gutes Aktiv um sich zu scharen, bei den sowjetdeutschen Literaten die Hoffnung auf bessere Zeiten zu wecken und die kalte Asche von dem kaum glimmenden künstlerischen Schaffen wegzublasen. Ausschlaggebend für das Verhalten des Redaktionskollektivs zur Literatur war die Ansicht des Chefredakteurs, eine gute Erzählung könne zehn Beiträge anderer Genres aufwiegen. In der Redaktion arbeiteten Andreas Kramer, Joachim Kunz, literarischer Beirat war Johann Warkentin. Für die Zeitung schrieben Ewald Katzenstein, Woldemar Spaar, Woldemar Herdt, Victor Klein. Aus Tomsk schickte seine ersten nach dem Gefängnis und der Arbeitsarmee geschriebenen Gedichte Sepp Österreicher. Sie alle wurden später mit einer einzigen Ausnahme Mitglieder des Schriftstellerverbandes.

Eine starke Mannschaft bildete auch die Zeitungsredaktion „Rote Fahne". Dort arbeiteten die bereits erwähnten Literaten — Woldemar Herdt, Woldemar Spaar, Andreas Kramer sowie Friedrich Böiger und Edmund Günther, die später ebenfalls Mitglieder des Schriftstellerverbandes geworden sind. Welche andere Rayonzeitung hatte in ihrer Redaktion gleichzeitig fünf Schriftsteller? Dabei arbeiteten sie in der Redaktion bis zum Übergang in die Rente, zwei von ihnen sind schon gestorben, die anderen leben nach wie vor unter ihren Lesern.

Am 1. Mai 1957 erschien in Moskau im „Prawda"-Verlag unter einem optimistischeren Titel — „Neues Leben" — die erste Nummer der Zentralzeitung in deutscher Sprache. Ebenso wie die „Arbeit" wurde „Neues Leben" von ehemaligen Mitarbeitern der „Täglichen Rundschau" geleitet. Sie bemühten sich um Kontakte zur sowjetdeutschen Bevölkerung, agitierten sie gewohnheitsgemäß für den Sozialismus, führten andere Arbeit durch — denn die deutschen Zeitungen waren (und bleiben) die einzigen Einrichtungen im Lande, die ideologische und erzieherische Arbeit, oft auch organisatorische und kulturelle Massenarbeit unter den Sowjetdeutschen in jenen schweren Jahren durchführten.

Doch man stieß schon auf Schwierigkeiten beim Kontaktknüpfen zur potentiellen Leserschaft, in der ersten Zeit gab es Probleme bei der Aufstellung eines Korrespondentenaktivs, die Zusammenarbeit mit den Schriftstellern ließ ebenfalls viel zu wünschen übrig. Doch der XX. Parteitag der KPdSU und die darauf folgende Wiederherstellung der Autonomien einiger anderer sowjetischer Völker, die während des Krieges ebenfalls Repressalien ausgesetzt worden waren, weckte auch bei den Sowjetdeutschen große Hoffnungen, was später zu einer gewissen Annäherung zwischen den Lesern und der Zeitung führte. Da aber im Redaktionskollektiv, erst recht denn im Redaktionskollegium Vertreter der Sowjetdeutsehen Bevölkerung fehlten, erschwerte dies die Arbeit der Zeitung bedeutend. „Neues Leben" wurde nicht als Zeitung der Sowjetdeutschen, sondern als Zeitung für die Sowjetdeutschen betrachtet.

Die Ende der fünfziger Jahre nicht in Erfüllung gegangenen Hoffnungen in Bezug auf die Wiederherstellung der Autonomie, die Weigerung der Behörden, diese im Jahre 1965, nachdem diese Frage zweimal in Moskau von Delegationen Sowjetdeutscher gestellt worden war, wiederherzustellen, die rücksichtslose Unterdrückung jeglichen kulturellen Lebens, einschließlich der Laienkunst (dieser Druck löste eine Emigrationswelle aus) führte mit der Zeit dazu, daß der Zeitungstitel „Neues Leben" bei den Lesern ein bitteres Lächeln hervorrief.

Die politische Lage der Sowjetdeutschen im Lande war ziemlich aussichtslos. Selbst die Zentralzeitung der sowjetdeutschen Bevölkerung, die von der „Prawda" herausgegeben wurde, war oft außerstande, die örtlichen Partei- und Staatsorgane dazu zu bewegen, die einfachsten Fragen zu lösen. Nichtsdestoweniger trug die Zeitung „Neues Leben" maßgeblich zur Wiedergeburt der sowjetdeutschen Literatur bei. Es sollte doch scheinen, daß eine einzige Zeitung, die ja keine Literaturzeitung war, für die Entwicklung der Literatur der damals über anderthalb Millionen zählenden Sowjetdeutschen nicht viel tun konnte. Diese Literatur war aber derart heruntergekommen, daß lediglich von einem Neubeginn die Rede sein konnte, dazu noch unter Bedingungen, die in ihrer fast 200jährigen Geschichte nie so ungünstig waren wie jetzt. Selbst sechs Jahre nach der Gründung der Zeitung beherrschten die Literaturseite nach wie vor Übersetzungen von Gedichten und Prosa aus der multinationalen Sowjetliteratur.

Ein Neubeginn stand nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht bevor. Denn auch die künstlerischen Erfahrungen, die diese Literatur in der Vergangenheit gesammelt hatte, konnten nicht genutzt werden. Die künstlerischen Leistungen unterscheiden sich von Leistungen in Wissenschaft und Technik: Letztere können, nachdem sie von den nachfolgenden Generationen aufgegriffen und ausgewertet sind, weiterentwickelt werden; in Literatur und Kunst hat jeder seinen Weg nach oben zurückzulegen, jeder bezwingt seine Höhe, dabei nicht als Teil einer Bergsteigermannschaft, in der einer den anderen absichert, sondern im Alleingang, und er wird nicht unbedingt jene Höhe erreichen, die sein Vorgänger erreicht hatte.

Die über das ganze Land verstreuten Literaten konnten nur aus Zeitungen erfahren, wer noch am Leben war und wohin es den einen oder anderen verschlagen hatte. Bald erschienen auf den Literaturseiten des „Neuen Lebens" Namen, die irgendetwas mit Literatur zu tun hatten. Begonnen wurde in der Tat am Nullpunkt: mit Schwänken, Gedichten und kleinen Erzählungen. Eine Besonderheit der sowjetdeutschen Literatur jener Zeit ist die Tatsache, daß es hier keine strenge Teilung in Prosa- und Gedichtautoren gibt. Praktisch alle widmen sich beiden Genres. Dabei veröffentlichen viele Literaten noch Zeitungsartikel, literaturkritische Beiträge und natürlich auch Nachdichtungen sowjetischer Lyrik. Das resultiert nicht unbedingt aus der Vielseitigkeit ihrer Begabungen, sondern ist mehr Synkretismus zurückzuführen: Die meisten Literaten der Nachkriegszeit hatten noch nicht das fortgeschrittene Stadium ihres Schaffens erreicht, sich noch nicht auf bestimmte Themen und Gattungen festgelegt, sondern lernten als Dichter und Prosaautoren gewissermaßen „die Welt kennen" und nahmen aktiv und ungeduldig Stellung zum Erlebten. Sie hatten noch keine großen und wichtigen Projekte und Themen, die es ihnen nicht gestatten würden, sich auf Zweitrangiges abzulenken.

1958 versammelten sich sowjetdeutsche Literaten in Krasnojarsk zu ihrem ersten Schriftstellerseminar, das nächste Mal trafen sie sich in Krasnojarsk im Jahre 1962. Später fanden derartige Seminare in Moskau statt. 1963 kamen zu unseren vier Mitgliedern des Schriftstellerverbandes aus der Vorkriegszeit - Andreas Saks (seit 1934), Herbert Henke (1939), Heinrich Kämpf (1939) und Dominik Hollmann (1940) - vier weitere hinzu: Victor Klein, Edmund Günther, Rudolf Jacquemien und Friedrich Bolger. Beim Vorstand des Schriftstellerverbandes der UdSSR wurde eine Kommission für die sowjetdeutsche Literatur gebildet. Die Arbeit dieser Kommission zu leiten, wurde der bekannte sowjetische Literaturkritiker Alexander Dymschitz gebeten. Obwohl er für die sowjetdeutsche Literatur ein Außenstehender war, setzte er sich in den entsprechenden Institutionen tatkräftig für die Lösung ihrer Probleme ein. Und es ist nicht seine Schuld, daß eine praktische Verbesserung der Lage dieser Literatur ausblieb...

Während die ersten zehn Nachkriegsjahre als Jahre tiefen Schweigens bezeichnet werden müssen, ist das zweite Jahrzehnt — 1955-1965 — ein Jahrzehnt der Wiedergeburt: Jahre zaghafter Kräfteproben (ist nicht alles verloren gegangen, sind wir noch in der Lage, etwas zu leisten?); Jahre, in denen sich unsere Literatur immer selbstbewußter zu Wort meldete, ihre eigene Stimme und gewisse Anerkennung erlangte; Jahre, in denen die ersten Bücher herausgebracht wurden. Diese Zeit hatte nicht nur für die Literatur selbst große Bedeutung, sondern über sie auch für die Leser. Gerade in jene Zeit fällt das größte Interesse für diese Literatur, zur Zeitung „Neues Leben" (1965 betrug ihre Auflage eine Viertelmillion! Jetzt ist die Auflage auf 100 000 Exemplare zusammengeschrumpft). In vieler Hinsicht war das auf die Atmosphäre nach dem XX. Parteitag, auf die großen Hoffnungen der deutschen Bevölkerung unseres Landes in Bezug auf ihre Zukunft zurückzuführen, um so mehr, als es bestimmte Gründe für derartige Hoffnungen gab: 1957 wurde in Schulen der muttersprachliche Unterricht für Kinder deutscher Nationalität eingeführt, eine Abteilung zur Heranbildung von Lehrern für Deutsch als Muttersprache und deutsche Literatur in Nowosibirsk gegründet (sie wurde von Victor Klein geleitet, dessen Schüler später Bedeutendes für die Pflege der deutschen Muttersprache und der sowjetdeutschen Literatur getan haben), einen Aufschwung erlebte die deutsche Laienkunst.

Doch wir sollten uns davon nicht irreleiten lassen: Ihre Hoffnungen trugen die Sowjetdeutschen eher im Herzen, in den Zeitungen dagegen wurde „Abstinenz" geübt. Denn der Erlaß von 1941 war noch nicht außer Kraft gesetzt, und die Sowjetdeutschen galten nach wie vor als faschistische Handlanger. Und als im August 1964 endlich ein neuer Erlaß verabschiedet wurde, blieb sein Inhalt der breiten Öffentlichkeit vorenthalten. In russischen Zeitungen wurde er damals überhaupt nicht veröffentlicht. Erst ein halbes Jahr später — im Januar 1965 — erschien sein Wortlaut auf deutsch in der Zeitung „Neues Leben", und da sahen die Sowjetdeutschen, daß der Erlaß von 1941 lediglich in dem Teil aufgehoben wurde, in dem die Rede von den pauschalen, wahllosen Anschuldigungen war. Eine Aufhebung der Strafe für ungerechtfertigte Anschuldigungen folgte jedoch nicht, die Autonomie der Sowjetdeutschen wurde nicht wiederhergestellt. Im Jahre 1965 schwanden nach negativer Reaktion der Landesführung auf die entsprechenden Eingaben zweier Delegationen die letzten Gründe für Optimismus, und zwar für lange Jahre.

Diese Lage der Sowjetdeutschen wirkte sich zwangsläufig auch auf die Lage ihrer Literatur aus. Vor allem kam dies in der Thematik zum Ausdruck: Die ganzen zehn Jahre, die im Zeichen der Beschlüsse des XX. Parteitages gestanden und die beispielsweise in der russischen Literatur die Möglichkeit gegeben hatten, viel mehr zu sagen als in den früheren Jahren, blieben für die sowjetdeutsche Literatur die wichtigsten Fragen ihrer Leser tabuisiert. Das betraf sowohl die Rehabilitierung als auch Wiederherstellung der Gleichberechtigung der Sowjetdeutschen und ihrer Autonomie, die Aufhebung des Verbots, in die früheren Wohnorte zurückzukehren, Wiedergeburt der nationalen Kultur und Sprache, Würdigung des Beitrags der Sowjetdeutschen zum Sieg während des Krieges an der Front und in der Arbeitsarmee. All das durfte weder in der Publizistik noch in der Literatur behandelt werden. Selbst die Übertragung des gefühlsinnigen Lieds von Lew Oschanin „Es fließt der Fluß Wolga...", das alle Wolgadeutschen, obwohl es gar nicht von ihnen handelte, durch Schicksalsverbundenheit erschüttert hat, wurde im „Neuen Leben" erst nach längeren und nicht unbegründeten Überlegungen veröffentlicht, denn Publikationssperre wurde nicht nur für die frühere offizielle Bezeichnung der Republik — ASSR der Wolgadeutschen —, sondern auch für das Wort „Wolga" angeordnet.

Es ist nur zu verständlich, daß in diesem eng gesteckten Rahmen, der aus der Widerspiegelungssphäre die wichtigsten Fragen des Volkslebens, die Vergangenheit und Gegenwart der Sowjetdeutschen ausklammerte, keine Literatur zur Entfaltung kommen kann (selbst wenn wir von den Veröffentlichungsmöglichkeiten absehen, die auf eine Literaturseite pro Woche beschränkt waren). Worüber schrieb denn die sowjetdeutsche Literatur?

Neben regelmäßiger Veröffentlichung von Gedichten und Erzählungen auf ihren Literaturseiten setzte sich die Zeitung „Neues Leben" auch für die Herausgabe von Büchern sowjetdeutscher Autoren ein. Der erste (und ziemlich repräsentative) Sammelband erschien I960 im Moskauer „Progreß"-Verlag unter dem Titel „Hand in Hand" — den Titeln wird, wie wir sehen, nach wie vor größte Beachtung geschenkt. Am lautesten wird wahrscheinlich nur dann „es atme sich so frei" geschrieen, wenn es zum Ersticken ist... In den Sammelband wurden bereits veröffentlichte Gedichte, Erzählungen, Schwänke und Nachdichtungen aufgenommen. Im Vorwort heißt es, der Sammelband sei ein Beispiel dafür, daß das „vielgestaltige, reiche Leben unserer Heimat... den einfachen werktätigen Menschen in Stadt und Land... zu solchen Höhen der Kultur verholfen hat, daß sie es wagen können, sich in ihren Mußestunden mit der Feder zu versuchen."9

Das Vorwort soll vom Verlag stammen, doch an dieser Aussage ist wiederum ein Mitarbeiter mit bestimmten Erfahrungen zu erkennen (bekanntlich gab es in der DDR nach dem Krieg eine groß angelegte Bewegung „schreibender Arbeiter"). Jedenfalls gibt das Vorwort keinen Anlaß zur Annahme, daß die Autoren selbst, auch freudetrunken von der bevorstehenden Herausgabe des Buches (endlich!), so etwas in vollem Ernst hatten sagen können.

Zum Motto des Sammelbandes wurde das „Sowjetdeutsche Sonett" von Johannes Weininger gewählt:

In das Orchester unsrer Poesie
reiht sich die sowjetdeutsche Dichtung ein.
Obzwar ihr Platz noch in den letzten Reihn,
ist sie ein Teil der großen Symphonie.

Vielfältig ist das Timbre all der Klänge.
Jed Instrument spielt seine Melodie.
Doch keines, keines stört die Harmonie
dem Sowjetland geweihter Hochgesänge.

Noch leise klingt der deutschen Harfe Spiel,
es fehlen ihr so manche wichtge Saiten,
doch sind die zagen Töne klar und rein.

Mein sehnlich Wunsch, mein innig Lebensziel,
mein stetiges Bestreben sei: bescheiden
der Harfensaiten eine einst zu sein.

Zieht man in Betracht, wann und nach welch schweren Prüfungen das Sonett geschrieben worden ist, so kann man wohl sagen, daß unter seinen poetischen und mildernden Bildern hervor die Dramatik der Lage der Sowjetdeutschen und ihrer Literatur zum Himmel schreit. Die „Harfe" der sowjetdeutschen Literatur stimmte tatsächlich erst nach vierzig Jahren Sowjetmacht wieder in das Orchester der Sowjetliteratur ein, und nach den Repressalien der 30er Jahre, nach der Arbeitsarmee zu behaupten, daß dieser Harfe nur einige Saiten fehlen, bedeutet, die Situation stark verharmlosen: Sie stand überhaupt fast ohne Saiten da. Und ihr „leiser Klang" bescheinigte durchaus die Zurückgezogenheit der Sowjetdeutschen, die von vielen sowjetischen Menschen auch heute noch als seltsame nationale Verschlossenheit gedeutet wird. Und sie, die Saiten dieser Harfe, konnten und durften nicht die „Harmonie" der gesamten sowjetischen Literatur stören, indem sie auf einmal tragische, zornige, widerspenstige Töne anschlagen würden. „Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts..." das war nicht vergessen, daran wurde man immer wieder erinnert.

Die ganze Bitternis der Lage der sowjetdeutschen Literatur und des ganzen Volkes wurde möglicherweise etwas leichter getragen, weil die Sowjetdeutschen trotz schwerster Prüfungen zutiefst an die Ideale des Sozialismus glaubten (davon werden wir uns im weiteren an anderen Beispielen überzeugen können), daher klingen die Saiten ihrer Harfe ideologisch bis auf den heutigen Tag noch „klar und rein".

Durchblättert man den Sammelband „Hand in Hand", der in gewisser Hinsicht ein Querschnitt der Literatur der ersten Jahre nach dem Neubeginn ist, bekommen wir eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was die sowjetdeutschen Dichter damals schrieben (genauer gesagt, was veröffentlicht wurde) — nach schwerstem Krieg, nach der Arbeitsarmee, den Ungerechtigkeiten, der Diskriminierung eines ganzen Volkes, der faktischen Zerstörung seiner Kultur und Literatur, als bis zur Rehabilitierung noch volle fünf Jahre vergehen mußten. Schon die Gedichttitel allein gewähren Einblick in Thema und Inhalt: „Vetter Heinrich wählt", „Herbst", „Heim und Heimat" (darüber, daß die Erfolge der Heimat dem lyrischen Helden zu einem warmen, hellen und „vom Winter" geschützten Haus verhelfen), „Ich preise mein Volk" (über die fleißige Arbeit der Sowjetdeutschen an der Seite der anderen Völker im Lande Lenins), „Der neue Strom" (über den Bau eines Wasserkraftwerks), „Die uns von Sieg zu Siege führt", „Lenin", „Jenissej", „Der Zeit voran", „Skifahrt", „Die Briefträgerin", „Ich bin wahrlich zu beneiden", „Der Winter hat Ade gesagt", „Morgengruß", „Sowjetfahnen im Weltraum", „Der Sowjetstern", „Stimme vom Neuland", „Ich singe die Großtat", „Millionen Pud", „Komsomol", „Ein Gast aus Afrika" usw. Wohl nur in zwei Gedichten hätte der eingeweihte Leser ahnen können, daß verbotene Themen angesprochen werden, doch um so erniedrigender klingen sie. Es handelt sich um die Gedichte „Iwan und Johann" und „Ballade vom Holz" von Sepp Österreicher, in denen durch glänzende Verstechnik aus dem düsteren und schrecklichen Alltag der Arbeitsarmee ein Fest befreiter Arbeit und des „Kampfes" für Planerfüllung wird...

In der Tat, dieser Sammelband bestätigt das im „Sowjetdeutschen Sonett" Gesagte: „keines, keines stört die Harmonie dem Sowjetland geweihter Hochgesänge". Urteilt man danach über das Leben der Sowjetdeutschen, so kann man zu dem Schluß kommen, daß es nie zuvor und nie danach so glücklich und unbeschwert war wie in jenen Jahren.

Es gibt im Deutschen das Wort „Zweckoptimismus", d. h. Optimismus, der praktische Ziele verfolgt. Wahrscheinlich geben Ton und Inhalt dieses Sammelbandes Anlaß, dieses Wort zu gebrauchen. Doch eine Reihe von Fakten dokumentiert, daß er lediglich als eine Auswahl jener Gefühle aus der ganzen Palette menschlicher Empfindungen war, die „erforderlich", „zugelassen" und „stimuliert" wurden. Darf man denn die Autoren jenes Sammelbandes heute dafür verteufeln?

Daß der Sammelband bei weitem nicht alles gebracht hatte, was schon damals Sowjetdeutschen und ihre Schriftsteller bewegte, davon zeugen nicht allein die in jener Zeit geschriebenen (und später veröffentlichten) Werke, sondern auch einiges aus dem Geschehen jener Jahre. So wurde im April 1962 in der Stadt Stschutschinsk, Gebiet Koktschetaw, eine Unionskonferenz zu Fragen atheistischer Erziehung einberufen, zu der rund 400 sowjetdeutsche Lehrer, Lektoren, Hochschuldozenten und Literaten eingeladen wurden. Als einer der Teilnehmer aus dem Präsidium gefragt wurde, was seiner Meinung nach getan werden müsse, damit die Zahl der Gläubigen zurückgehe, antwortete jener: „Erforderlich sind Freiheit, Konsolidierung, Wiederherstellung der Autonomie". Als der Redner das Podest verließ, herrschte im Präsidium Grabesstille, die Menschen im Saal aber erhoben sich von ihren Plätzen und begrüßten diese Worte mit brausendem Applaus. Ein interessantes Detail dazu: Als ich in meinem Artikel über die Geschichte und die Probleme der Sowjetdeutschen auf die Sterblichkeit in der Arbeitsarmee einging, erwähnte ich, ohne den Namen zu nennen, einen Menschen, der als einziger von einem 2 000 Mann zählenden Trupp am Leben geblieben war. Das war gerade der Redner von Stschutschinsk, Johann Lategan.

Zwei Jahre später, im Herbst 1964, wurden aus Anlaß des Kasachstan-Besuchs von W. Medwedew, Mitglied des Redaktionskollegiums der Zeitung „Neues Leben", Vertreter der sowjetdeutschen Intelligenz ins ZK der Kommunistischen Partei Kasachstans eingeladen. Bald aber wurde das Gespräch in eine andere Richtung gelenkt. Man wollte von ihm wissen, ob es tatsächlich einen Erlaß über die Rehabilitierung der Sowjetdeutschen gebe? W. Medwedew bestätigte, daß ein solcher Erlaß angenommen sei (es handelte sich um den Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 29. August 1964, in dem die Anschuldigungen des Erlasses von 1941 aufgehoben wurden). Nach langen Beteuerungen, daß es im ZK diesen Text nicht gebe, wurde er dennoch „gefunden". Nachdem sich die Versammelten mit seinem Inhalt vertraut gemacht hatten, sprachen sie nicht mehr so sehr über die Zeitung „Neues Leben", sondern vielmehr über die Inkonsequenz des Erlasses, über die Notwendigkeit der Wiederherstellung der Autonomie der Sowjetdeutschen, die ja aufgrund der ungerechtfertigten Anschuldigungen, wie es jetzt hieß, aufgelöst worden war.

Derartige Stimmungen mußten zwangsläufig ihren Niederschlag in der Literatur finden. Im Juli 1962 fand, wie schon gesagt, in Krasnojarsk ein Seminar sowjetdeutscher Literaten statt. Am letzten Arbeitstag las Victor Klein ein Fragment aus einem seiner Romane vor: Das Fragment wurde mit „Das letzte Grab" betitelt. Darin gab der Autor ein Bild der Tragödie der Aussiedlung der Wolgadeutschen, des schreienden Widerspruchs zwischen diesem Akt und dem Patriotismus der Sowjetdeutschen, ihrem Leben und Wesen. Das Fragment entstand 1960, veröffentlicht wurde es aber erst 28 Jahre später...

Im Jahre 1962 entstand Johann Warkentins Poem „Du, eine Sowjetdeutsche". Diese große, vielschichtige Dichtung, die voller Tragik und Lyrismus ist, zeichnete in einer damals zulässigen Form ein Bild des Lebens der Sowjetdeutschen in den Jahren des Krieges und danach (erschienen im Dezember 1963 im NL)...

Doch das Verbot, Probleme des Volkslebens zu behandeln, wurde auch zwei Jahrzehnte danach noch praktiziert, ja davon machten die sowjetdeutschen Zeitungen selbst noch zwei Jahre nach Beginn der Perestroika kräftig Gebrauch. Das hatte zur Folge, daß in der sowjetdeutschen Literatur Werke vorherrschten, in denen die nationale Problematik ziemlich schwach zur Geltung kam. Wenn der Schriftsteller nicht die Möglichkeit hat, die wichtigsten Probleme im Leben seines Volkes zu behandeln, so ist die Literatur nie vollwertig, und ein Kritiker, der diese Lage der Literaten nicht sehen will, beginnt diese Literatur der Heuchelei zu beschuldigen und sie dafür zu geißeln. So war es auch mit der sowjetdeutschen Literatur. Gedichte und Erzählungen wurden in der Regel den Anforderungen der jeweiligen Zeitung angepaßt: Sie handelten vom Friedenswillen, dem Stolz auf die Erfolge ihrer Heimat, dem Internationalismus sowie von Natur und Liebe als ewigen Themen. All das ließ beispielsweise einige westliche Kritiker unserer Literatur zur Schlußfolgerung gelangen (und auch unsere Kritiker können heute zur gleichen Schlußfolgerung kommen), daß diese Themen wie auch der Patriotismus der Sowjetdeutschen selbst ihnen aufgezwungen seien und also von ihnen nicht als aufrichtig empfunden würden. In Wirklichkeit aber verhält es sich ganz anders. Aufgezwungen wurde ihnen diese sehr enge Thematik, was aber keineswegs bedeutet, daß alle zu diesen Themen geschriebenen und veröffentlichten Gedichte und Erzählungen verlogen sind. Meiner Meinung nach handelt es sich in überwiegender Mehrheit um Gedichte, denen natürliche Gefühle der Autoren und unverfälschtes Pathos zugrunde liegen.

Diese Schlußfolgerung möchte ich anhand eines Artikels, der Anfang dieses Jahres, also frei jeglichen Zwangs, erschienen ist.10 Der Autor sсhreibt:

„Im Recht wie im Unrecht ist Rußland unsere Heimat. Hier lebten unsere Ahnen, hier waren unsere Eltern mitbeteiligt an der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, hier sind unsere Kinder und Kindeskinder geboren. Unsere Weltanschauung wurde geprägt von der russischen Kultur und der großen russischen Literatur. Puschkin, Lermontow, Majakowski, Jessenin — sie leben doch in unseren Herzen. Ihr Einfluß auf unsere Geisteswelt schmälert keinesfalls den Einfluß der großen Deutschen — Goethe, Schiller, Heine, Beethoven... Wir waren Rußlanddeutsche und bleiben Sowjetdeutsche. Ich denke an eine Zeit, da es in dem ersten sozialistischen Staat der Welt überhaupt keine Republiken und nationalen Einteilungen mehr geben wird. Die Brüderschaft der Völker ist ein entlegenes, doch auch ein reales Ziel unserer Bestrebungen."

Seinen Beitrag schließt der Autor mit folgendem Gedicht ab:

Wieder ist ein Tag verflossen,
hell der Abendhimmel blaut,
und ich spreche hier mit Rußland
still in meinem Mutterlaut.

Rußland, meine Heimatstätte,
du beginnst am Dorfesrand,
wo die Steppentulpen blühen
und wo meine Wiege stand.

Hast mich frühzeitig gerufen
in die weite Welt hinaus,
aber deine Wege führten
mich zurück ins Elternhaus.

Feierliche Abendstille.
Träumend stehn die Bäume da.
Habe Dank, vertrautes Rußland,
meinem Herzen lieb und nah.

Wir sehen also, daß den sowjetdeutschen Schriftstellern wie auch den Sowjetdeutschen überhaupt der Patriotismus, die Liebe zur Sowjetheimat nicht aufgezwungen waren.

Hier entsteht aber eine andere Frage, die nicht so sehr diesen Artikel, sondern vielmehr einen bestimmten Teil unserer sowjetdeutschen Poesie, ja der Sowjetliteratur überhaupt betrifft.

Es hat den Anschein, daß uns all die klischeehaften Losungen, auf deren Primitivismus große Ziele reduziert worden sind, dermaßen stark eingehämmert wurden, daß wir uns nicht so bald von überholtem Denken befreien können,

Verschmelzung der Völker zu einer einzigen Familie, in der alle Sprachen verschwinden, in der alle sogar die gleiche angenehm braune Hautfarbe haben werden, wie Makar Nagulnow aus „Neuland unterm Pflug" träumte… "Weltrevolution", in der das wichtigste Mittel zur Verwirklichung dieses Traumes von der Verschmelzung „die Liquidierung des Bürgertums und aller Ausbeuterklassen" ist. „Aufbau der kommunistischen Gesellschaft" -- bis 1937 oder 1977 — egal, der ebenfalls schnellstmögliche Liquidierung all dessen, was uns „im Wege steht", verlangte: der Intelligenz, der „Kulaken", ihrer „Handlanger", der Einzelwirtschaft, der „bürgerlichen" Kultur, der Bauernschaft insgesamt, aller, „die nicht mit uns sind". Es hieß, „wir müssen mit der alten Welt brechen", und sicherheitshalber, damit uns, die „reinen", mit ihr, „der verdammten", nichts mehr verband, „schüttelten wir ihren Staub von den Füßen". Der „Aufbau des entwickelten Sozialismus" und die „Herausbildung einer neuen Gemeinschaft — des sowjetischen Volkes" verlangten die „Abschaffung" nationaler Schulen, der Muttersprache, der nationalen Kultur, der Selbständigkeit nationaler Gebilde, Abschaffung der wirtschaftlichen Selbständigkeit, angefangen von der Arbeitsgruppe auf der Farm bis hin zu den Unionsrepubliken...

All das erinnert an die Geschichte, wie Münchhausen an der „schnell wachsenden" türkischen Bohne nach dem Monde emporkletterte und sich von dort am Strick herunterließ, indem er immer wieder das „überflüssige Stück" über sich abhieb und es unten wieder anknüpfte. Nur haben wir nicht einmal die Geduld abzuwarten, bis sich unsere Bohne am „Horn des Mondes" festrankt; wir versuchen, uns mit all unserem Gewicht auf den noch schwachen grünen Stengel zu stürzen, um an ihm emporzuklettern, und hauen ihn dann unten ab — nein, nein, nicht einmal, um „das übrige Stück" dann oben anzuknüpfen, sondern um uns selbst einreden zu können, ein gewaltiges Stück Weg zurückgelegt zu haben, damit wir die bestiegenen Höhen bestaunen können, denn das ist ein sehr schönes Gefühl. Wir wollen auf diesem schnellsten Wege mit unserer Vergangenheit brechen, und das hat wirklich nicht den Anschein, daß wir vernünftig handeln.

Wann werden wir denn endlich begreifen, daß für uns alle auf dieser Welt ein einziger gemeinsamer Weg in die „lichte Zukunft" führt — der Weg des Aufbaus und nicht der Zerstörung, der Zusammenarbeit und nicht der gegenseitigen Vernichtung? Daß die Zukunft ebenso aus der Gegenwart hervorgeht, wie die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgegangen war. Daß die Helligkeit des kommenden Tages in sehr starkem Maße davon abhängt, ob unser heutiges Leben auch licht genug ist. Auf die bestmögliche Weise und so rasch wie möglich eine „lichte Zukunft" zu errichten, bedeutet für jede Generation, für sich selbst ein glückliches Leben in größtmöglichem Wohlstand und Freiheit aufzubauen. Eine Gesellschaft von Habenichtsen kann nicht frei sein; geistige Interessen und hohe Sittlichkeit müssen auf einer gediegenen materiellen Grundlage fußen, nämlich auf dem Wohlergehen eines jeden Menschen. Es wäre naiv zu glauben, daß ein Mensch, dem es an allem — angefangen von Wohnraum bis hin zur Seife — mangelt, imstande ist, eine Gesellschaft der Freiheit, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit zu schaffen, in der es keine Gewalt geben wird. Ein, sei es auch im übertragenen Sinne, „hungriger" Mensch kann höchstens das Vorhandene gleichmäßig aufteilen, also denjenigen, die mehr besitzen, etwas wegnehmen und es den anderen geben — man denke an Bulgakows Scharikow! Dadurch nehmen die materiellen Werte der Gesellschaft aber nicht zu, und die Gesellschaft wird dadurch nicht reicher, und mehr Liebe werden die Mitglieder dieser Gesellschaft einander dadurch auch nicht entgegenbringen, und zusätzliche Anreize für gute Arbeit entstehen dadurch auch nicht.

Der Weg in die „lichte Zukunft" besteht nicht darin, etwas zu zerstören, zu vernichten, zu beschlagnahmen und zu verbieten, und auch nicht darin, dieser Zukunft zuliebe ohne Ende etwas zu opfern — ob nun den eigenen Wohlstand, die eigenen Interessen und die eigene Freiheit oder das eigene Leben und das Leben anderer. Der kürzeste Weg in diese Zukunft führt über die Gewährung der größtmöglichen Freiheit und Selbständigkeit für jedermann und in allem: in der Arbeit und im gesellschaftlichen Leben, in der Ausübung der staatsbürgerlichen Pflichten, in der Erhaltung und Weiterentwicklung der Muttersprache und der nationalen Kultur, in der Gewährleistung des Wohlstands des eigenen Volkes und des ganzen Landes. Und das Leben, die immer engere Verflechtung der Arbeits-, Kultur- und Wirtschaftsverbindungen bei der Lösung der für alle auf der Erde zunehmend gemeinsamen Aufgaben werden die Menschen und Völker zwingen, sich immer mehr zusammenzuschließen, in immer stärkerem Maße eine gemeinsame Sprache zu prägen und voneinander kulturelle und sonstige Werte zu übernehmen und zu gemeinsamen Kriterien und zu einer gemeinsamen Position zu finden. Die „lichte Zukunft" ist keine per Dekret verkündete „Einheit" und „Gleichberechtigung" der Massen, die vorher aller ihrer Eigenart beraubt wurden, sondern eine natürliche Annäherung zunehmend freier, unabhängiger Menschen von immer höherer Kultur, für die viele Probleme nicht mehr existieren, die der Ernährung und Bekleidung schon gar nicht.

Was aber die Prägung der Persönlichkeit eines „Erbauers der Zukunft" anbetrifft, so kann sich ein Mensch, dessen Weg über einen fensterlosen Korridor führt und der dabei andauernd angeschnauzt, zurechtgewiesen und angetrieben wird, unmöglich zu einer vollwertigen Persönlichkeit entwickeln. Ebenso kann eine Gesellschaft keine vollwertige, gesunde und produktive Gesellschaft sein, wenn sie eine nach der anderen ihre Wurzeln abtrennt, einen nach dem anderen ihre der Sonne zustrebenden Zweige abschneidet oder am eigenen Stamm sägt, bemüht, sich von der eigenen Vergangenheit loszulösen. Ebenso wie bei einem Baum ist es auch in der menschlichen Gesellschaft nicht möglich, daß nur die Wurzeln arbeiten und die Blätter lediglich rauschen. Arbeiten müssen alle: die Wurzeln, der Stamm und die Blatter, die, solange sie nicht abgefallen sind, das Licht und die Energie der Sonne dem Stamm und den Wurzeln zuleiten.

Mit dieser unserer Losung der „lichten Zukunft" glichen wir lange Zeit dem weisen Karapet auf dem Esel, der diesem eine an einen Stock gebundene Möhre vor die Schnauze hält. Der Esel rennt der Möhre hinterher, die Möhre bleibt stets vorneweg, und der Karapet ist mit sich selbst sehr zufrieden. Ewig kann das aber doch nicht dauern: Man wird den Esel irgendwann ja füttern müssen, und Karapet wird irgendwann begreifen, daß der Prozeß der „Bewegung" kein Selbstzweck ist. Auch die Möhre kann sich in etwas verwandeln, was den Esel nicht mehr in Trab zu setzen vermag und vor lauter Gier nichts anderes wahrnehmen läßt. Wollen wir doch innehalten, wollen wir aufhören zu „kämpfen" und anfangen zu arbeiten. Und zwar nicht für die ferne, sei es auch strahlende, Zukunft, sondern für unser Heute. Wollen wir doch alles tun, damit es uns heute gut geht. Einem jeden von uns. Und uns allen zusammen. Das wird eben unser Teil der „lichten Zukunft" sein. Und das, was wir schaffen, wird unseren Kindern und Enkelkindern gestatten, noch mehr zu leisten — für sich selbst und somit auch für ihre Kinder und Enkelkinder. Glauben wir etwa wirklich daran, daß wir das Glück unserer Kinder sichern können, wenn wir ihnen unsere Armseligkeit vererben, wir, die wir nicht richtig arbeiten können und wollen und ein gut Teil unseres Lebens beim Sсhlangenstehen zubringen?

Doch kehren wir zu unserem Autor zurück.

„Im Recht wie im Unrecht — das ist unsere Heimat". Diese These bedarf meiner Meinung nach einer Erläuterung.

Ja, es gibt nur eine Heimat. Und Heimat bleibt immer Heimat. Gerade deswegen aber müßten wir streng unterscheiden zwischen der Heimat und denen, die, in der Heimat an die Macht gelangt, Unrecht walten ließen. Nicht die Heimat ist an unserem (und dem der anderen Sowjetvölker) Schicksal schuld, sondern bestimmte Leute, die sich mit dieser Heimat gern identifizieren. Leute, die das Gefühl des wahren Patriotismus mißbrauchten und ihre eigenen bzw. Gruppeninteressen für die Interessen der Heimat, der Partei und des Sozialismus ausgaben und von ihren Mitmenschen verlangten, „im Interesse der Heimat", „im Interesse der Partei", „im Interesse des Sozialismus", „im Interesse der Weltrevolution" sich selbst zu diffamieren und zu „gestehen", daß man ein Spion ausländischer Geheimdienste sei, sich widerspruchslos erschießen zu lassen und die eigenen Verwandten und Kameraden zu verraten und zu verleumden. Leute, die von ihren Mitmenschen forderten, die „treuen Leninisten", die „Inspiratoren und Organisatoren" lobzupreisen, und die ihnen untersagten, an der Richtigkeit dessen, was diese letzteren tun und sagen, auch nur die geringsten Zweifel zu hegen oder etwa ihren Unmut zu bekunden wegen der chronisch ausbleibenden Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse infolge der permanent „schwierigen internationalen Lage" (woran alle, bloß nicht sie schuld waren) oder der nicht weniger permanent „ungünstigen Witterungsbedingungen". „Im Interesse der Heimat" war es nicht erlaubt, die Wahrheit zu wissen, zu sagen und zu schreiben, es war nicht erlaubt, die eigene Geschichte zu kennen, es war nicht erlaubt, anderen Völkern zu vertrauen, es war nicht erlaubt... Was war denn aber eigentlich erlaubt?

„Zweckdienlicher Patriotismus" setzte blinden Glauben und Demut voraus — gerade diese Eigenschaften ermöglichen es einem, das Volk im eigenen Interesse zu manipulieren. Wahrer Patriotismus hat jedoch mit Blindheit und Demut nichts gemeinsam, er identifiziert die Heimat nie mit einem Diktator und seinen Handlangern, die die Macht an sich gerissen haben, er ist imstande, die Interessen der Partei von den eigen-nützigen Interessen ihres entarteten Teils zu unterscheiden, er weiß, daß nicht die Heimat ihren Kindern gegenüber ungerecht sein kann, sondern nur Menschen gegenüber anderen Menschen, und daß die Liebe zur Heimat ein aktives Gefühl ist, daß die Treue zur heimischen Erde und zum eigenen Volk nicht in deren Besingen besteht, sondern vor allem darin, sie frei, reich und glücklich werden zu lassen, darin, sie vor der Schändung nicht allein durch fremde, sondern auch eigene Missetäter zu schützen.

Man muß doch zwischen der Heimat und den Leuten unterscheiden, die in dieser Heimat die Macht ausüben. Wenn diese Leute wahre Patrioten vernichten, um selbst ihre Macht zu behalten, wenn sie dem Menschen nicht gestatten, ein Mensch zu bleiben, und einem Volk nicht erlauben, ein Volk zu bleiben, darf man diese Leute und ihre Macht nicht mit der Heimat identifizieren.

Man kann daher auch eine andere These aus diesem Artikel unmöglich akzeptieren, nämlich, daß die „Auswanderung" den Sowjetdeutschen nicht zur Ehre gereiche. Sie bereitet ihnen keine Freude, das ganz gewiß. Was aber die Ehre angeht, so gereicht die Auswanderung (und nicht allein der Sowjetdeutschen) in erster Linie denjenigen nicht zur Ehre, die in den Jahren des Personenkults und der Stagnation in der Politik das Sagen hatten — die Ursachen der Auswanderung wurzeln eben dort. Die Sowjetdeutschen sind an dieser Auswanderung nicht schuld. Das ist die extreme Reaktion eines Volkes auf die Bedrohung seiner Existenz. Heute scheint kaum jemand noch den Sowjetdeutschen vorzuwerfen, daß sie auswandern. Diese Methoden der „Gegenpropaganda" sind ebenfalls in der Vergangenheit zurückgeblieben. Heute wird bekanntlich viel getan, um die Ursachen zu beseitigen, die die Menschen zur Auswanderung veranlassen. Sobald die Gerechtigkeit gegenüber den Sowjetdeutschen, sobald ihre eigene Staatlichkeit wiederhergestellt sein wird, wird, dessen bin ich sicher, auch der Strom der Auswanderer stark abnehmen.

Die Fähigkeit, das alles zu erkennen und zu unterscheiden, müßte heute eigentlich jedem Menschen eigen sein, erst recht einem Schrift¬steller. Man darf nicht ohne Ende den Stock lecken, mit dem einer traktiert wird, und zwar unter Berufung auf Interesse der Heimat. Und noch etwas. Für einen Schriftsteller wie auch für einen Politiker ist es in größerem Maße verzeihlich, Dummheiten zu machen als welche zu sagen. Der Schriftsteller und die Leserschaft sind ebenso wie ein Politiker und die Massen zwei kommunizierende Gefäße, für die jedoch ein besonderes Gesetz gilt. Das Niveau des Inhalts eines dieser "Gefäße" muß immer höher sein als in dem jeweils anderen "Gefäß". Sonst wird ein Politiker oder ein Schriftsteller einfach entbehrlich. Daher erwächst für sie auch die Verpflichtung, sich jedes ihrer Worte sorgfältig zu überlegen.

Man könnte dem Autor des besagten Gedichts noch eine ganze Reihe von Fragen stellen. Zum Beispiel, ob noch viele von den Sowjetdeutschen imstande sind, mit ihrer Heimat in ihrem „Mutterlaut" zu reden? Und weshalb dort, wo einst die Wiege des lyrischen Helden dieses Gedichts stand, heute nicht die Wiege seiner Kinder oder Enkel steht? Und ob man die Zwangsaussiedlung eines ganzen Volkes mit Beschlagnahme seines Vermögens mit den Worten umschreiben kann: Die Heimat hat „mich in die weite Welt hinaus gerufen"? Und wie denn diese Zwangsaussiedlung den lyrischen Helden „zurück ins Elternhaus geführt" hatte?

Doch darauf kommt es jetzt nicht an. Und ich habe mich Rosa Pflugs Werk zugewandt, nicht etwa um ihr irgendwelche Vorwürfe zu machen. Ich achte sie als Dichter und Menschen mehr als viele andere, und ihre grenzenlose Güte, ihre stete Bereitschaft, allen alles zu vergeben, ihr Verzicht auf den Widerstand gegen das Böse ist nicht ihre Schuld, sondern in gewissem Maße ihr Unglück. Ich wollte nur zeigen, daß auch jetzt, da niemand mehr einen dazu „zwingt“, bei sowjetdeutschen Schriftstellern (und höchstwahrscheinlich auch bei einem bedeutenden Teil ihrer Leserschaft) nach wie vor „klar und rein“ gewisse „Hochgesänge“ erklingen.

Das ist meinen Beobachtungen zufolge überhaupt ein erstaunliches Phänomen: die Treue der Menschen zu ihren Idealen. Idealen, die trotz so vieler Leiden, Ungerechtigkeiten und Verluste, trotz solcher Bedingungen bewahrt wurden, die in einem Menschen nach der Logik der Dinge überhaupt jeden Glauben, jede Moral und jede Sittlichkeit und erst recht die Treue zu den Idealen ausmerzen mußten, unter deren Mißbrauch so viele Ungerechtigkeiten und Verbrechen verübt wurden. Diese Treue verblüfft einen bei den Sowjetdeutschen in Anbetracht ihres Schicksals ganz besonders.

Teilt man die Nachkriegsperiode unserer Literatur — die Periode ihrer Wiedergeburt — in Etappen ein, dann kann man die Jahre 1955-1965 als die erste Etappe bezeichnen. Sie ist gekennzeichnet durch das Wiedererscheinen von Zeitungen in deutscher Sprache, durch den Beginn der Herausgabe von Büchern der sowjetdeutschen Literatur und auch dadurch, daß die Schriftsteller, deren Schaffen in die dreißiger Jahre zurückreichte und die den Krieg und die Arbeitsarmee überlebt hatten, erneut zur literarischen Tätigkeit zurückkehrten. Hinzu kam auch, daß sich in der Literatur neue Kräfte zu Worte meldeten, das künstlerische Niveau der Literatur (ganz besonders der Dichtung) sich wesentlich erhöhte und unter den Literaten eine gewisse, sei es auch ganz schwache, organisatorische Arbeit begonnen hatte.

Für die sowjetdeutsche Litera¬tur waren es trotz allem sehr wichtige Jahre, es waren Jahre eines Aufschwungs.

4.

Als Beginn der zweiten Etappe kann man das Jahr 1966 betrachten, da als Reaktion auf die im vorangegangenen Jahr von Delegationen der Sowjetdeutschen aufgeworfenen Grundfragen ihres Lebens Entscheidungen allein zu drittrangigen Angelegenheiten getroffen wurden: In Kasachstan wurde die deutschsprachige Republikzeitung "Freundschaft" gegründet, der Buchverlag „Kasachstan" wurde um eine deutsche Redaktion ergänzt, und die Redaktion der Zeitung „Neues Leben" erhielt „Nachschub“ aus sowjetdeutschen Mitarbeitern (1970 stellten Deutsche etwa ein Drittel ihrer Mitarbeiter. Das war der Gipfel, seitdem ist ihr Anteil wieder zurückgegangen).

Als Chefredakteur der Zeitung „Freundschaft" wurde Alexej Schmeljow, ehemaliger Mitarbeiter der sowjetischen militärischen Administration in Deutschland in der Nachkriegszeit, eingesetzt. In der Auswahl der restlichen Mitarbeiter der Zeitung war wohl doch die Erfahrung von „Neues Leben" berücksichtigt worden: Alle literarisch tätigen Mitarbeiter waren Sowjetdeutsche.

Der Werdegang der neuen Zeitung vollzog sich unter sehr schwierigen Bedingungen. Kader für die sowjetdeutsche Presse wurden doch nirgends herangebildet, man mußte entweder in Russisch schreibende deutschstämmige Journalisten oder aber Deutschlehrer heranziehen, die mit der Journalistik nicht vertraut waren. Die größte Schwierigkeit bestand aber darin, daß sich die Stellung der Sowjetdeutschen nach 1965 schlagartig verschlechtert hatte; ein nationales Leben fehlte gänzlich, und über irgendwelche Mängel in dieser Sphäre, selbst im muttersprachlichen Deutschunterricht, zu schreiben, war lange „nicht erwünscht". Unter Mißachtung der Leserspezifik wurde die Zeitung ohne Ende mit offizielen Materialien der Unions- bzw. Republikebene ausgefüllt (was die „Freundschaft" immer noch nicht zu überwinden vermag), die die Sowjetdeutsehen in ihrer Masse russisch in anderen Zeitungen lesen. Bemerkbar machte sich auch die Apathie, die Enttäuschung der Sowjetdeutschen nach 1965, die Auffassung der Zeitung als Almosen anstelle der verweigerten Wiederherstellung der Autonomie. Die Zahl der Abonnenten der Zeitung ist in all den Jahren praktisch nie über 10 000 hinausgestiegen (in Kasachstan leben etwa eine Million Sowjetdeutsche). Erst in der jüngsten Zeit, da in der Zeitung schon der zweite Redakteur gewechselt und sie es endlich vermocht hat, auf die Positionen der Perestroika überzugehen, haben das Interesse der Leser für diese Zeitung und deren Ansehen rasch zu wachsen begonnen.

Dennoch hat die „Freundschaft" gleichfalls ihren Beitrag zur Entwicklung der sowjetdeutschen Literatur geleistet, denn dank ihrer Literaturseite hatten sich die Veröffentlichungskapazitäten ja verdoppelt. Neben den Lesern schon gut bekannten Autoren des „Neuen Leben" zog die „Freundschaft", die ja mitten in der Leserschaft agiert, auch neue Literaten heran. Besonders eng waren mit dieser Zeitung verbunden Rudolf Jacquemien, Karl Welz, David Wagner und Alexander Hasselbach, die unmittelbar in ihrer Redaktion wirkten; ihre Werke veröffentlichten dort praktisch alle Vertreter der beiden älteren Generationen der Literaten sowie auch der Nachwuchs: Viktor Heinz, Herold Belger, Elsa Ulmer, Reinhold Leis, Wandelin Mangold, Robert Weber.

Eine Konkurrenz zwischen den drei Zeitungen gab es in der Regel nicht. Die Verteilung des literarischen Materials zwischen ihnen erfolgte wie auch überall: gemäß der Hierarchie. Jede Zeitung nahm ihre „ökologische Nische" ein. Der Unterschied lag nicht nur in den Auflagen, im Ansehen der Zeitungen, sondern auch in den Honoraren. Doch selbst in der Zentralzeitung „Neues Leben" machten die höchsten Sätze für Gedichte und Prosa nur die Hälfte oder gar ein Drittel des niedrigsten vom Urheberrecht festgelegten Niveaus aus (was nach wie vor der Fall ist). Die Gründung der deutschen Redaktion im Verlag „Kasachstan" ermöglichte gleichfalls, den Umfang der herausgegebenen sowjetdeutschen Literatur zu verdoppeln. (Im Verlag „Progreß" sollten jeweils 20 Autorenbogen pro Jahr erscheinen, doch das wurde bei weitem nicht immer eingehalten). Es sei jedoch vermerkt, daß sowohl „Progreß" als auch „Kasachstan" nur das verlegten, was bereits im „Neuen Leben" und in der „Freundschaft" erschienen war und somit eine entsprechende Zensur passiert hatte. Die Herausgabe von Büchern vergrößerte deshalb die Publikationsmöglichkeiten nicht: die „Durchlaßfähigkeit" der sowjetdeutschen Literatur wurde bis 1980 praktisch durch die Literaturseiten der Zeitungen begrenzt.

Nichtsdestoweniger hatte der literarische Prozeß merklich an Intensität gewonnen. Es erschienen die ersten Nachkriegserzählungen der älteren Generation der Schriftsteller — Alexander Reimgens, Victor Kleins, Dominik Hollmanns, Heinrich Kämpfs und Reinhard Kölns. Neben gemeinschaftlichen Sammelbänden kamen nunmehr auch, vorerst allerdings recht dünne, Büchlein einzelner Autoren heraus.

Die zweite Etappe im Prozeß der Wiedergeburt der sowjetdeutschen Literatur, die von 1966 bis 1980 dauerte, war alles in allem, ungeachtet der schwierigen Situation der Sowjetdeutschen, doch recht produktiv gewesen. Dies erklärt sich durch mehrere Ursachen. Die eine ist der Umstand, daß die Vertreter der älteren Generation zu jener Zeit in ihrer Mehrheit in den Ruhestand getreten waren und — physisch wie literarisch noch vollkommen „intakt" — die Möglichkeit erhalten hatten, sich gründlicher der Literatur zu widmen. Die zweite Ursache lag darin, daß die der älteren folgende Generation in die Periode ihrer künstlerischen Reife getreten war; sie hatte noch nicht die Zeit, große Werke zu verfassen, leistete aber einen soliden Beitrag zur Entwicklung der Poesie. Und schließlich war diese fünfzehnjährige Zeitspanne eine Periode, da die jüngste Generation der Literaten den erforderlichen Reifegrad erreichte: Am Anfang dieser Etappe etwa dreißigjährig, waren es am besten gebildete Menschen, gut vertraut mit der Welt-, der russischen und der deutschen Klassik wie auch mit der sowjetischen Literatur.

Man muß auch vermerken, daß in dieser Zeit der thematische Rahmen der sowjetdeutschen Literatur etwas erweitert worden war. Der Erlaß von 1964, veröffentlicht im „Neuen Leben", hob an sich schon den Schleier über der Vergangenheit der Sowjetdeutschen ein wenig hoch. Es war möglich geworden, sei es vorerst noch nicht anhand von Dokumenten, über die Jahre der Revolution und des Bürgerkrieges in deutschen Kolonien zu schreiben (die geographische Lage dieser Kolonien wurde in der Regel nicht angegeben); es kamen die ersten Beiträge zur fernen Geschichte der Sowjetdeutschen heraus (für deren Nach-Oktober-Periode galt noch ein Tabu); zum 30. Jahrestag des Sieges über das Nazideutschland erschien, nach knappen Notizen „über den Arbeitsbeitrag der Sowjetdeutschen zum Sieg", auch die erste Dokumentarerzählung, die das Thema der Kriegsjahre in der Geschichte der Sowjetdeutschen anschnitt: Sie handelte von Paul Schmidt, der aus der Arbeitsarmee an die Front geflohen und als Soldat unter fremdem Namen bis nach Berlin gekommen war.11

Die zeitgenössische Thematik fand in den Werken von Alexander Reimgen den größten Niederschlag. Er lebte in jener Zeit in Mittelasien, in der Hungersteppe, dort hatte er auch die Jahre der Erschließung von Neu- und Brachland verlebt und unter den Neulandbezwingern gearbeitet. Deshalb sind seine Werke vom Geist jener Zeit geprägt und die in ihnen handelnden Personen, in ihrer nationalen Zusammensetzung, wie es in dem ihn umgebenden Leben auch wirklich war, ganz verschieden, stets von einem aufrichtigen Gefühl der Achtung einander und den Bräuchen und Traditionen des anderen gegenüber erfüllt.

Obwohl jedoch die Haupthelden der zeitgenössischen Werke jener Zeit Sowjetdeutsche sind, scheinen sie gar keine nationalen Interessen zu besitzen; sie beschäftigen sich mit keinen nationalen Problemen, ja sie reden nicht einmal über diese Probleme: Sie arbeiten fleißig „Hand in Hand" mit Vertretern anderer Nationalitäten und demonstrieren gemeinsam mit diesen durch ihr gesamtes Leben, daß Internationalismus für sie „kein abstrakter Begriff, sondern ein natürlicher Zustand" sei. Das Nationale an diesen Werken und ihren Helden manifestiert sich hauptsächlich in der Sphäre der Folklore und den ethnographischen Details sowie in der Sorgfalt und dem Eifer, mit denen da deutschstämmige handelnde Personen zu Werke gehen. Die Geschichte des Volkes, die jüngste Vergangenheit, die Tragödie, die das sowjetdeutsche Volk in den Jahren des Krieges durchmachen mußte, das Fehlen einer nationalen Kultur, nationaler Schulen und der Möglichkeit, die eigene Muttersprache zu erlernen usw., konnten in diesen Erzählungen „über die Gegenwart" nicht einmal andeutungsweise präsent sein. Die Helden besaßen positive und negative Eigenschaften im gebührenden Verhältnis und wirkten in irgendeinem irrealen Raum, losgelöst von der Vergangenheit und abgegrenzt von der Gegenwart; sie waren plaziert in irgendeinem durchsichtigen Kolben, in den auch eine gewisse Anzahl von Personen anderer Nationalitäten, Lebensrealien, Details und Emotionen hingetan worden war, und in diesen kolbenartigen Werken wurde, wie praktisch in der gesamten sowjetischen Literatur über jene Zeit, die Gesellschaft des „entwickelten Sozialismus" und die „harmonisch entwickelte Persönlichkeit" der Erbauer dieser Gesellschaft in ihrer ganzen „Vielfalt" einer „Analyse" unterzogen.

Die erniedrigte Stellung der gesamten in ihren Potenzen derart machtvollen sowjetischen Literatur, ihre auf die Rechtfertigung und Bejubelung der Politik des regierenden Flügels der Partei und der Resultate dieser Politik reduzierte Rolle mußten, selbst wenn sie der Sowjetdeutschen Literatur nicht als Vorbild dienen würden, diese an die Schlußfolgerung heranführen, jeder Versuch, die Wahrheit zu sagen, sei von vornherein aussichtslos und zum Scheitern verurteilt. Wenn sich die gesamte sowjetische Literatur dies nicht leisten konnte — was konnte sich da die niemandem bekannte und unter hundertfacher Aufsicht stehende sowjetdeutsche Literatur erlauben? Eine Literatur, die noch viel schlimmeren Einschränkungen ausgesetzt war und im Leben ihres Volkes so gut wie kein positives Material für ihre Schöpfungen besaß?

Unsere Literatur konnte damals von einer Nachgestaltung des Lebens, von einer Analyse seiner Triebkräfte und dem Durchspielen unterschiedlicher Varianten nicht einmal träumen — es war ihr sogar nicht gestattet, dieses Leben wahrheitsgetreu darzustellen, auch wenn das im Einklang mit den Forderungen des sozialistischen Realismus geschehen wäre. In ihren Rechten und Möglichkeiten viel stärker eingeschränkt als die anderen nationalen Literaturen, manifestierte sich unsere Literatur nach wie vor allein im Rahmen der „erlaubten" Themen.

Heute können wir jedoch anhand ihrer damaligen Schwächen und Mängel auch etwas anderes verfolgen: die fehlende Fähigkeit vieler ihrer Autoren zur Anpassung und Liebedienerei. Die Haupthelden der Gegenwartswerke jener Zeit sind zwar Sowjetdeutsche, doch in den dargestellten Lebensprozessen sind sie in der Regel nicht die Hauptpersonen, was durchaus der Wirklichkeit entsprach. Versuche, in Werken jener Zeit das Leben der Sowjetdeutschen als vollblutig und „nicht schlechter als bei allen anderen" zu zeigen, endeten, auch wenn sie unternommen wurden, mit Mißerfolg, denn sie standen im Widerspruch zum Leben. Das Fehlen entsprechenden Materials im Leben der Sowjetdeutschen hinderte die sowjetdeutsche Literatur daran, sich nach dem Vorbild anderer nationaler Literaturen bedeutsamen Problemen im Leben ihres Volkes zuzuwenden. Und das Tabu für die wichtigsten nationalen Probleme schränkte das Nationale in den Werken auf Momente ein, die, wie bereits gesagt, vorwiegend ethnographischen und linguistischen Charakter hatten.

Die erniedrigte Stellung der Sowjetdeutschen und ihrer Literatur hatte im Falle der meisten Literaten somit doch nicht vermocht, diese dazu zu bringen, sich ebenfalls zu erniedrigen. Jawohl, sie schrieben „Positives" darüber, worüber sie überhaupt schreiben durften, doch in ihrer Masse mieden sie es, das zu preisen, was bei ihrem Volk keine positiven Emotionen hervorrufen konnte. Dazu war aber auch Mut erforderlich.

In hohem Maße gerade daher rührt die für die Zeit der Stagnation kennzeichnende Tatsache, daß sich die Schriftsteller, wie auch in anderen nationalen Literaturen, ungeachtet aller, mitunter sehr kategorischen, Aufforderungen, über die Gegenwart, über den heutigen Helden, über die Arbeiterklasse zu schreiben, der Vergangenheit, der Geschichte widmeten. Den Anfang hatten vor allem die Schriftsteller der älteren Generation gemacht. Sie kehrten in ihren Werken in die Jahre ihrer Kindheit und Jugend, in die Jahre der Revolution, des Bürgerkrieges und der Kollektivierung zurück, in jene Jahre, die für sie, damals ganz junge Menschen, erfüllt waren von dem Glauben an die lichten Ideale, deren Sieg sich sehr bald, gleich nach der neuerlichen, zweifelsohne letzten, blutigen Auseinandersetzung einstellen sollte. Zu solchen Werken gehören die Erzählungen von V. Klein, A. Reimgen, D. Hollmann, R. Köln und A. Saks, die in dieser Zeit geschrieben und in manchen Fällen erst später veröffentlicht wurden.

Bei den Literaten der mittleren Generation, die in jenen Jahren in die Zeit der künstlerischen Reife getreten waren, handelte es sich vorwiegend um Dichter: Alexander Beck, Friedrich Bolger, Nelly Wacker, Johann Warkentin, Woldemar Herdt, Ewald Katzenstein, Nora Pfeffer, Rosa Pflug, Lia Frank, Woldemar Spaar. Man muß überhaupt feststellen, daß die Dichtung in der sowjetdeutschen Literatur der Nachkriegszeit stets den am stärksten entwickelten Teil darstellte und es auch heute noch bleibt. Dies hat höchstwahrscheinlich in bedeutendem Maße die gleichen Ursachen wie auch die hohe Ackerbaukultur ihrer Vorfahren in Deutschland: Der Mangel an Grund und Boden zwingt einen nach Wegen zu suchen, diesen so effektiv wie möglich zu nutzen. Die im Verlaufe langer Zeit durch die Zeitungsfläche begrenzten Veröffentlichungsmöglichkeiten waren die Ursache des „intensiven Entwicklungswegs der Literatur". Sie ließen keine ernsthafte Beschäftigung mit der Prosa zu; bei einem beliebigen Organismus entwickeln sich aber untätig bleibende Organe nur schwach. Die Poesie, die ihren Vorteil in Sachen Operativität ausnutzt, ist der Prosa auch im Hinblick auf die Aktualität des Inhalts überlegen.

Bekanntlich erfreut sich die zeitgenössische Dichtung in den deutschsprachigen Ländern keiner besonderen Beliebtheit. Schuld daran ist wohl in gewissem Maße ihre Abkehr von den klassischen Traditionen zugunsten einer verkomplizierten Form und übermäßigen Subjektivierung des Inhalts; dies aber verwandelt die Gedichte beim Verzicht auf bestimmte Elemente, die sie von der Prosa unterscheiden (Reim, exaktes Versmaß, musikalische Klangfärbung), in Verse für den Verstand und verringert ihr Vermögen, beim Leser lebhaften Widerhall und gefühlvolle Anteilnahme auszulösen.

Der sowjetdeutschen Dichtung blieb dieses Los zum Glück erspart, sie hat die klassische Klarheit und Schlichtheit wie auch die Fähigkeit in hohem Maße bewahrt, das Herz anzusprechen. Selbst in ihren kompliziertesten Werken, wie etwa in Gedichten von Lia Frank, die in diese begeistert Formen und Methoden der japanischen klassischen Dichtung überträgt, als deren feinfühlige Übersetzerin sie sich bewährt, bietet sich die sowjetdeutsche Poesie doch als lebendige und bewegende Dichtung dar.

Die Leistungen der sowjetdeutschen Dichtung gehen in beachtlichem Maße darauf zurück, daß sie, angefangen bereits von den zwanziger Jahren, stets die russische Dichtung, die zeitgenössische wie die klassische, aktiv übersetzte. Die perfekte Kenntnis der russischen Sprache befähigt die sowjetdeutschen Literaten, das jeweilige Original in seinem ganzen Reichtum wahrzunehmen, und die ständig wachsenden Anforderungen an die poetische Form zwangen sie immer, an den Übersetzungen mit allem Ernst zu feilen. Neben der großen Bedeutung dieser Arbeit für die Popularisierung der russischen und der sowjetischen Dichtung im Ausland, war diese Arbeit, mit der sich praktisch alle sowjetdeutschen Dichter befassen, für diese stets auch eine hervorragende Fortbildungsschule. Wohlbekannt sind die klassischen Übersetzungen mehrerer Märchen von Puschkin, die Simon Ellenberg besorgte (sie erschienen in der DDR); wunderbare Übersetzungen von Werken russischer und sowjetischer Dichter stammen aus der Feder von Johann Warkentin, Sepp Österreicher und Friedrich Bolger, falls man sich allein auf die Namen derjenigen beschränken wollte, deren Beitrag zur Übersetzungspraxis besonders gewichtig ist.

Von der Stellung der Poesie in der sowjetdeutschen Literatur zeugt auch der Umstand, daß sie auf den Literaturseiten der Zeitungen auch heute umfangmäßig ebensoviel Platz einnimmt wie die Prosa. Und man kann es nur bedauern, daß sie ins Russische vorerst bei weitem nicht so intensiv und mit solcher Qualität übersetzt wird, wie sie selbst Werke anderer Literaturen nachdichtet...

Wenn man den Weg, den die sowjetdeutsche Literatur von 1955 bis 1980 zurücklegte, bewertet, kann man sagen, Hauptergebnis dieses Weges sei die Tatsache, daß unsere Literatur, die praktisch aus dem Nichts wiederauferstanden war, inzwischen schon eine beachtliche Stärke erlangt hat; sie hat den Inhalt ihrer Werke kontinuierlich erweitert und vertieft und war bestrebt, auch schon ernste Fragen aus dem Leben ihres Volkes anzuschneiden. Sie hat (ganz besonders in der Poesie) ein Niveau erreicht, das dem einer Reihe von nationalen Literaturen mit einer weniger tragischen Vergangenheit und einer günstigeren Gegenwart nicht nachsteht. In diesen 25 Jahren hat unsere Literatur, den Bedingungen zum Trotz, die jede Möglichkeit ihrer Existenz auszuschließen schienen, einen recht weiten Weg zurückgelegt, sie entwickelte und vervollkommnete sich ständig weiter und gewann immer an Aktivität — selbstverständlich in den für sie gezogenen straffen Grenzen; sie pflegte intensive, wenn auch einseitige, Kontakte zur russischen und zur sowjetischen Literatur insgesamt.

Auf diesem Weg begegnete unsere Literatur jedoch auch großen und häufig unüberwindbaren Schwierigkeiten, die sich auf das Tempo ihrer Entwicklung überaus negativ auswirkten. Eine der Hauptschwierigkeiten war, daß das sowjetdeutsche Volk ein vollblutiges und vollberechtigtes Leben entbehren mußte. Fehlt aber ein solches Leben, dann kann ein Volk auch keine vollblutige Literatur besitzen — auf kargem Boden gedeiht keine üppige Vegetation. Die weitere Schwierigkeit war die fehlende Möglichkeit, sich der Literatur als Beruf zu widmen: In der sowjetdeutschen Literatur konnte man seinen Lebensunterhalt damit nicht bestreiten. Die dritte Schwierigkeit lag in der fehlenden Ausbildung von Literaturkadern: In unserer Literatur gibt es praktisch keine Autoren mit literarischer Bildung. Jede Arbeit muß indes von Spezialisten verrichtet werden, und das Fehlen einer entsprechenden Bildung kann selbst einen talentierten Menschen daran hindern, Gipfel zu erreichen, die ihm sonst durchaus zugänglich wären. Das vierte Problem, das der Entwicklung der Literatur im Wege stand, war das Fehlen einer Möglichkeit, große Werke zu schreiben und zu veröffentlichen; dies zwang die Literaten, sich vorwiegend kleinen literarischen Formen zuzuwenden. Von erstickender Wirkung waren auch die straffen Grenzen, die der sowjetdeutschen Literatur in der Thematik gesetzt waren: Daher rührte die zwangsläufige Themenseichtheit, die Oberflächlichkeit unserer Literatur, die das Leben des eigenen Volkes unwillkürlich verfälschte und gezwungen war, sich der „Methode des Eisbergs" zu bedienen und „zwischen den Zeilen" schreiben zu lernen, in der Hoffnung, der Leser kenne die Geschichte und die aktuelle Situation, so daß die „Spitze des Eisbergs" ausreiche — alles weitere könne er sich selbst ausmalen und zu Ende denken und fühlen. Eine verdammenswerte Zeit!

Die ausländischen Kritiker unserer Literatur vermochten in ihr in der Regel kein echtes Leben zu entdecken. Das ist nicht weiter verwun¬derlich, denn das entsprach auch der Wirklichkeit. Verwunderlich ist etwas anderes, nämlich, daß sie häufig die bittere Wahrheitstreue unserer Literatur nicht wahrnehmen wollten, die durch ihren Zustand als solchen das Fehlen eines wahren Lebens bei den Sowjetdeutschen widerspiegelte. Eine herablassende Haltung gegenüber der sowjetdeutschen Literatur ist sowohl für einige ausländische Wissenschaftler als auch — in noch größerem Maße — für eine Reihe sowjetischer Übersetzer und Germanisten kennzeichnend, die unsere Literatur mit der Literatur der DDR und der BRD verglichen und ihr u. a. auch noch ihre „antiquierte Sprache", ihren „unmodernen Stil" und dergleichen mehr vorwarfen. Sie unternahmen dabei nicht nur keinerlei Versuche zu ergründen, weshalb dies der Fall ist, sondern urteilten über Sprache und Literatur, ohne auch nur zu ahnen, daß sich die Sprache der Sowjetdeutschen recht stark von der deutschen Sprache der DDR und der BRD unterscheidet und daß sich die Prosa, vor allem aber die Poesie der Sowjetdeutschen nach ganz anderen künstlerischen Gesetzen richtet als in der DDR und der BRD.

5

Die nächste, die dritte, Etappe in unserer Nachkriegsliteratur begann mit der Gründung des Almanachs der sowjetdeutschen Literatur und Publizistik „Heimatliche Weiten". (Apropos: Den Menschen, die vierzig Jahre davor aus ihren heimatlichen Orten vertrieben und über das ganze riesige Land verstreut worden waren, eine Zeitschrift mit dieser Bezeichnung anzubieten, ist wohl nicht die beste Entscheidung gewesen).

Der Leser wird schon gemerkt haben, daß der Einteilung in Etappen ein auf den ersten Blick vereinfachtes Prinzip zugrunde liegt: die Erweiterung der Veröffentlichungsmöglichkeiten. Dieses Moment war selbstverständlich von sehr großer Bedeutung, doch ausschlaggebend ist hier, wie wir im weiteren sehen werden, etwas anderes. Von entscheidendem Gewicht ist hierbei die Veränderung der Haltung gegenüber den Sowjetdeutschen und ihren Problemen, die stets auch eine gewisse Erweiterung des Rahmens des Zulässigen zur Folge hatte; die Gründung neuer Presseorgane war lediglich ein äußerer Ausdruck dieser Veränderungen.

Der Almanach (in Wirklichkeit stellte er von seinem ersten Heft an eine Zeitschrift für Literatur, Kunst und Gesellschaftspolitik dar) erschien lediglich zweimal im Jahr in einem Umfang von rund 16 Autorenbogen je Heft. Den Hauptplatz nahm darin umfangmäßig die schöngeistige Prosa ein, große Beachtung wurde auch der Poesie (bis zu drei Autorenbogen), der Geschichte der Sowjetdeutschen und der Publizistik geschenkt. Der Almanach enthielt auch Veröffentlichungen für Kinder und einen Humor-Teil; in jedem Heft erschienen darüber hinaus vier Seiten Farbreproduktionen von Werken sowjetdeutscher Maler.

Der Almanach gestattete, endlich auch in der Prosa einen Durchbruch zu schaffen. Gleich seit dessen Erscheinen wurden darin Romane und große Erzählungen veröffentlicht, also das, was wegen seines Umfangs in den Zeitungen unmöglich gedruckt werden konnte. Innerhalb von nur acht Jahren erschienen auf diese Weise fünf Romane. Der größte davon ist G. Sawatzkys „Wir selbst", der praktisch der Vergessenheit entrissen wurde (hätte jemand von diesem Werk je erfahren, wäre der Almanach vielleicht drei Jahre später gegründet worden?). Die weiteren Romane sind Alexander Reimgens „Geschmack der Erde" und (als Kurzfassung) „Unter vollen Segeln", Wilhelm Brungardts „Sebastian Bauer" und Andreas Saks' „Im Wirbel der Zeit". Hinzu kamen dreizehn Erzählungen: „Durch die Schule des Lebens" von Reinhard Köln, „Reise in die Erinnerung" von Robert Weber, „Halsgericht" von Aivo Kaidja, „Briefe aus der Komsomoljugendzeit" von Joseph Kapp, „Stimme des Herbstes" und „Drunten im Tale" von Herold Belger, „Der Siwwetersprung" von Victor Klein, „Echo der Seele" von Karl Schiffner, „Rote Reiter" von Dominik Hollmann, „Mit Moskau im Herzen" von Friedrich Süptiz, „Nur ein Jahr" von Kornelius Neufeld, „So war es" von Friedrich Krüger und meine Erzählung „Unser Hof"; drei Bühnenstücke: „Die große Prüfung" von Alexej Debolski, „Weiße Nelke" von Boris Dubrowin, und Irene Langemanns „Hab oft im Kreise der Lieben..." sowie mehrere Kurzgeschichten.

Keine Etappe in der Geschichte der sowjetdeutschen Prosa der Nachkriegszeit ist durch das Erscheinen einer solchen (selbstverständlich verhältnismäßigen) Vielzahl von großformatigen Prosawerken gekennzeichnet wie diese, die kürzeste von allen. Dieser „Sprung" war nicht allein dadurch möglich geworden, daß sich in den vorangegangenen 25 Jahren bedeutendes Material angesammelt hatte und die literarische Aktivität der Autoren infolge der neu hinzugekommenen Publikationsmöglichkeiten gewachsen war, sondern auch durch die stete Erweiterung des Rahmens der Literatur, und zwar nunmehr von innen her, durch diese letztere selbst. 1972 wurden nämlich die Bestimmungen, die den Deutschen im Verlaufe von dreißig Jahren die Rückkehr in die Orte untersagten, aus denen sie nach allen möglichen Ecken und Enden der „heimatlichen Weiten" ausgesiedelt worden waren, wieder aufgehoben. Danach war das Wort „Wolga" (im „Neuen Leben" und in den „Heimatlichen Weiten", nicht aber in der „Freundschaft") allmählich wieder „zensurfähig" geworden...

1978 wurde der erste Chefredakteur des „Neuen Lebens“, G.F.Pschenizyn, der viel für die sowjetdeutsche Literatur und für die Bildung eines intakten Redaktionskollektivs geleistet hatte, nach seiner Verabschiedung in den Ruhestand durch W.I.Zapanow abgelöst, in seiner Jugend gleichfalls ein Mitarbeiter der „Täglichen Rundschau“. Er war der Redaktion von „oben“, aus dem Apparat des ZK der KPdSU „zugewiesen“ worden. Er besaß zwar keine erforderliche literarische und journalistische Bildung, dafür aber zwei Eigenschaften, die sich damals in gewissem Maße als nützlich erwiesen: das Fehlen sonderlicher Furcht vor den für ihn keinesfalls geheimnisvollen „Apparattschiks“, und einen deutlich ausgeprägten Ehrgeiz. Ein aktiver und energischer Mensch, der im Papierkrieg gut bewandert war und in allem stets große Beharrlichkeit zeigte, packte er die Lösung mancher Fragen an, die früher „nicht lösbar“ waren, und löste sie auch, was allerdings auch seinem eigenen Ehrgeiz und seiner „Lobbedürftigkeit“ immer stärkeren Auftrieb verlieh.

Eben unter W.I.Zapanow wurde die Gründung des Almanachs und eine Vergrößerung des Honorarfonds der Literaturseite des „Neuen Lebens“ durchgeboxt. Am Anfang sehr vorsichtig, zeigte der Chefredakteur nach und nach immer größere Kühnheit auch in den Veröffentlichungen. Die Veröffentlichung bestimmter Beiträge ließ sich oft mit einem recht einfachen Trick erwirken: Wenn ein Mitarbeiter (aufrichtige oder vorgetäuschte) Zweifel an der Möglichkeit der Veröffentlichung „derartigen“ Materials vorbrachte, fühlte sich der Chefredakteur erst recht herausgefordert und äußerte „seine“, also die entgegengesetzte, Meinung. Wollte man nun, daß ein gutes Material das Licht der Welt erblickte, dann war man gut beraten, es nicht zu loben. Da der Almanach bei der Redaktion des „Neuen Lebens“ gegründet worden war (für dessen Herausgabe wurde eine zusätzliche „Abteilung“ mit drei Mitarbeitern gebildet), war er gleichfalls dem Chefredakteur der Zeitung unterstellt (die Bezeichnung des Almanachs ist übrigens auch vor allem W.I.Zapanow zu „verdanken“).

Die sowjetdeutsche Publizistik gewann allmählich sowohl im „Neuen Leben'' als auch in den „Heimatlichen Weiten" immer mehr an Spielraum und rückte bereits unmittelbar an die Vorkriegsgeschichte der Sowjetdeutschen und die Zeit der Arbeitsarmee heran. Zunächst zeigte sie diese selbstverständlich nur von der positiven Seite her: Teilnahme am Bürgerkrieg, Erfolge der Kollektivierung, Beitrag der Arbeitsarmisten zum Sieg.

Bei der Lösung der Aufgabe, den Weg für die sowjetdeutsche Literatur freizulegen und „Neu- und Brachland" zu erschließen, hat der historische Teil des Almanachs eine beachtliche Rolle gespielt. Gerade darin, im Artikel von Hermann Kolojarski „Die bildende Kunst der Wolgadeutschen" (Nr. 1/1983) wurde eigentlich erstmals in den 42 Nachkriegsjähren die ASSR der Wolgadeutschen erwähnt. Die Veröffentlichung dieses Artikels mit der beinahe vergessenen Abkürzung stieß daher auf ernstzunehmende Hindernisse.

Bereits im dritten Heft des Almanachs (Nr. 1/1982) erschien ein Übersichtsbeitrag von Johann Kronewald mit dem Titel „An der Arbeitsfront" (das Wort Arbeitsarmee war noch tabu), in dem zwar über die tatsächliche Situation der Sowjetdeutschen während des Krieges, über die Arbeitslager und ihre zahllosen Opfer nichts gesagt, das Thema aber trotzdem recht gründlich behandelt wurde; der Autor zeigte die Ausmaße der „Teilnahme der Sowjetdeutschen an den heldenhaften Arbeitstaten des gesamten sowjetischen Volkes in den Jahren des Krieges".

Im zweiten Heft des nächsten Jahres (1983) veröffentlichte der Almanach eine umfangreiche Studie von Johann Windholz über die Folklore der Sowjetdeutsehen. Ein Jahr später folgte der Artikel der Kunstwissenschaftlerin Ingrid Solowjowa-Wolynskaja über das Schaffen und das tragische Schicksal des hervorragenden sowjetdeutschen Malers, des Verdienten Künstlers der ASSRdWD, Jakob Weber. Diese Artikel eröffneten den Lesern ihre noch gar nicht weit zurückliegende Vergangenheit, von der viele von ihnen gar nichts wußten, als reges, allseitig entwickeltes Leben, das ebenso vollwertig gewesen war wie das aller anderen sowjetischen Völker. Wenn man noch darauf hinweist, daß der Almanach ab seinem ersten Heft regelmäßig Beiträge zur Geschichte der Sowjetdeutschen veröffentlichte, und zwar angefangen vom Manifest der Kaiserin Katharina II., nach dem 1764 die ersten Vorfahren der Sowjetdeutschen nach Rußland gekommen waren, und bis hin zur Oktoberrevolution, dann wird wohl klar, daß der Almanach mit seinen publizistischen und geschichtlichen Beiträgen nicht nur eine immer größere Bresche in die als undurchdringlich anmutende Wand schlug, die die Gegenwart der Sowjetdeutschen vierzig Jahre lang von ihrer Vergangenheit trennte, sondern bei seinen Lesern auch eine völlig neue Lebenshaltung prägte. Sie fühlten sich nicht mehr als Leute, die vom Mond gefallen waren, als Leute ohne Vergangenheit, ohne Geschichte, als Leute, die einst „Handlanger der Faschisten" gewesen sein sollten, und nicht als Nachkommen von Kriegsgefangenen, wie dies bis vor kurzem sogar so mancher Parteifunktionär glaubte, sondern als Menschen, die einst eine eigene Staatlichkeit, Geschichte und Kultur gehabt hatten, die über zwei Jahrhunderte hinweg aufs engste mit der Geschichte und der Kultur Rußlands verbunden gewesen waren. Herausprägung eines Gefühls der Vollwertigkeit — so könnte man wohl die Nebenwirkung bezeichnen, die die Publizistik und die historischen Beitrage jener Jahre hatten.

„Neu- und Brachland" wurde nunmehr auch von der schöngeistigen Literatur emsig erschlossen. Die Umsiedlung der Vorfahren der Sowjetdeutschen nach Rußland im 18. Jahrhundert bot den Stoff für den Roman „Sebastian Bauer" des bis dahin in der sowjetdeutschen Literatur unbekannten Autors Wilhelm Brungardt. Die Handlung des Romans spielt sowohl in Deutschland als auch in den ersten mühe- und qualvollen Jahrzehnten nach der Ankunft der deutschen Umsiedler an der Wolga. A. Reimgens Roman „Geschmack der Erde" zog, sei es auch eine punktierte, aber doch deutlich wahrnehmbare Linie von den Voroktober-Jahren über die gesamte Vorkriegszeit, über die Jahren des Krieges bis in die 60er Jahre hinein und zeigte anhand der Geschichte einer Familie Fragmente aus der Geschichte der Sowjetdeutschen insgesamt.

Vom Anfang des Jahrhunderts bis in die früheren dreißiger Jahre hinein ist das Lehen in den Wolgakolonien in der autobiographischen Erzählung ,,Durch die Schule des Lebens" von Reinhard Köln (HW 2/1982) dargestellt. Die Handlung des Romans „Im Wirbelsturm" von Andreas Saks (HW 1/1983) spielt sich in den Jahren des Bürgerkrieges und der Kollektivierung an der Wolga ab. Mit der Teilnahme des Komsomol an der Kollektivierung setzte sich auf dramatische und spannende Weise Joseph Kapp in seiner Erzählung „Briefe aus der Komsomoljugendzeit" (HW 2/1983) auseinander — ich glaube, als erster in der sowjetischen Literatur überhaupt. Das unantastbare Thema des Schicksals der Familien und Kinder der ausgesiedelten Sowjetdeutschen in den Kriegsjahren konnte erstmals in meiner Erzählung „Unser Hof" (HW 1/1984) angeschnitten werden, die, etwas zurechtgestutzt, erst nach fünfzehn Jahren Schmorzeit erschien, und auch dies infolge eines bizarren Zusammenspiels von Zufälligkeiten. Diesem Thema galten auch die autobiographischen Erzählungen „Reise in die Erinnerung" von Robert Weber (HW 1/1982) und „Mit Moskau im Herzen" von Friedrich Süptiz (HW 2/1986). Dem Gegenwartsleben waren die Erzählungen „Stimme des Herbstes" (HW 2/I983) und „Drunten im Tale" (HW 2/1987) von Herold Belger gewidmet.

Es kam rein spontan so, daß die umfangreichen Literaturwerke dieser Periode, die einander hinsichtlich der Zeit der Handlung so gut wie gar nicht deckten, den Lesern ihre Geschichte seit den ersten Tagen der Ankunft ihrer Vorfahren in Rußland und bis in die jüngste Vergangenheit zeigten. Gerade dadurch erklärt sich wohl das merkliche Wiederaufleben des Interesses für die schöngeistige Literatur. Wurde deren Inhalt früher vorwiegend durch moralisch-ethische Momente geprägt, so bot sie nun-mehr, sei es auch in künstlerischer Form ausgedrückte, aber doch konkrete Informationen zur Geschichte des Volkes, die die Sowjetdeutschen aus anderen Quellen nicht beziehen konnten. Sie blieben ja ihnen jahrzehntelang vorenthalten. Gerade in dieser kurzen Zeitspanne machte die schöngeistige Prosa beachtliche Fortschritte: Von gewaltiger inneren Spannung erfüllt und hier und dort aus langjährigen Tabus ausbrechend, spielte sie, auch wenn sie noch nicht die volle Wahrheit sagen konnte, eine sehr große Rolle beim Wiederaufleben des nationalen Bewußtseins der Sowjetdeutschen. Sie stärkte, so paradox dies auch klingen mag, der Zensur und allen möglichen ungeschriebenen und daher noch um so weniger kalkulierbaren Einschränkungen zum Trotz, in ihren Lesern das Gefühl des Patriotismus, das Gefühl ihrer Zugehörigkeit zu ihrer sowjetischen Heimat, denn sie zeigte, wie tief das sowjetdeutsche Volk in russischen Landen verwurzelt war und ist. Daß die Prosa für den Leser zunehmend an Gewicht gewann, bedeutet keinesfalls, daß die Poesie in dieser Zeit von Stagnation befallen war oder gar eine rückläufige Entwicklung erlebte. Im Almanach veröffentlicht zu werden, war ziemlich ehrenvoll, denn da kam nur das beste durch. Gefragt war nicht nur Aktualität, worauf sich die Zeitungen häufig beschränkten, sondern auch ein bedeutsamer Inhalt und eine hinreichend vollkommene Form. Ein halbes Dutzend Gedichte anzubieten, die diesen Forderungen gerecht sein würden, war selbst für die führenden Dichter kein leichtes. Es bedurfte also beharrlicher Arbeit, wollte man den erhöhten Forderungen entsprechen. Eine gewisse Rolle wird wohl auch der Umstand gespielt haben, daß die sowjetdeutschen Autoren durch ihre Veröffentlichungen im Almanach erstmals erfuhren, wie die Schriftstellerei unter normalen Umständen honoriert wird.

Der Almanach, der auf diese Weise das Niveau der gesamten sowjet¬deutschen Literatur heben half, wurde gleichzeitig zu der Hauptbahn dieser Literatur. Die bedeutendsten Werke der Prosa, der Poesie und der Publizistik wie auch die zur Geschichte der Sowjetdeutschen, erschienen in diesen Jahren eben im Almanach.

In dieser Zeit rückten unter den Dichtern diejenigen nach vorn, die um die Vierzig waren: Robert Weber, Viktor Heinz, Reinhold Leis, Arno Pracht, Viktor Schnittke, Waldemar Weber. Desgleichen auch solche Vertreter der vorangehenden Generation wie Woldemar Spaar, Woldemar Herdt, Alexander Beck, Nelly Wacker und Rosa Pflug sowie auch Nora Pfeffer und Lia Frank, die wegen ihres wechselvollen Schicksals später als die anderen zur Literatur gefunden halfen. Gerade ihnen gehören die Hauptleistungen in der Poesie der letzten Jahre.

Einen recht beachtlichen Platz nimmt in der Sowjetdeutschen Literatur die Literatur für Kinder ein. Möglicherweise liegt es daran, daß die meisten Literaten von Bildung und Beruf her Lehrer sind. Es gibt jedenfalls kaum einen unter unseren Schriftstellern, der nichts für Kinder geschrieben hat. Seit Jahren werden in der ,,Kinderecke" des „Neuen Leben", in der „Freundschaft" und der „Roten Fahne" sowie letztens auch im Almanach regelmäßig Gedichte, Märchen und Erzählungen für Kinder gedruckt. Im Verlag „Kasachstan"' sind nicht wenige Kinderbücher erschienen, die sogar auf internationalen Buchmessen Aufsehen erregten. Zu den Rührigsten auf diesem Gebiet gehören Nora Pfeffer, Ewald Katzenstein, Dietrich Rempel, Leo Marx, Andreas Kramer, Woldemar Herdt, Nelly Wacker, Rosa Pflug und Irene Langemann. Unsere Kinderliteratur zeichnet sich durch feinfühliges Verständnis der kindlichen Psyche, durch reinen und klaren Stil und meistens auch durch klassische Straffheit der Verse aus.

Die letzte Etappe ist auch mit einem weiteren bedeutsamen Ereignis im Leben und in der Kultur der Sowjetdeutschen verbunden: mit der Eröffnung des Deutschen Theaters in Kasachstan 1980. Die sowjetdeutsche Literatur war auf dieses Ereignis kaum vorbereitet. Die Stücke der Vorkriegszeit hatten ihre Aktualität weitgehend eingebüßt, und neue waren nach dem Krieg so gut wie nicht geschrieben worden. Das erste Stück, das vom neuen Theater inszeniert wurde, war A. Reimgens „Die Ersten", das auf Motiven seiner Werke über die Hungersteppe beruhte. Gegenwärtig stehen zwei weitere sowjetdeutsche Stücke auf dem Spielplan des Theaters: Viktor Heinz' „Auf den Wogen der Jahrhunderte" und Irene Langemanns „Hab oft im Kreise der Lieben..." Einige Autoren arbeiten an Werken, die das Repertoire des Schauspielhauses bereichern könnten.


In diesen Aufzeichnungen über die sowjetdeutschen Literatur wurde vorerst die Literaturkritik kein einziges Mal erwähnt. Sie hat indes auch ihren Anteil am Wiederaufleben unserer Literatur nach dem Krieg. Läßt man die zufälligen und episodischen Namen sowie zahlreiche Jubiläumsartikel aus, die eine bestimmte Zielsetzung und Ausrichtung hatten, so sind in unserer Kritik vor allem drei Hauptakteure zu nennen: Alexander Henning, Johann Warkentin und Herold Belger.

Es war so gekommen, daß unsere Literatur gerade am Anfang der Nachkriegsperiode ihrer Entwicklung, da so gut wie alle Schreibenden erst lernten oder aber nach langem Schweigen wieder ihre ersten zaghaften und vorsichtigen Schritte taten, einen versierten und wohlwollenden Lehrmeister erhielt, der einen für jene Zeit überaus wertvollen Vorzug besaß, nämlich die Fähigkeit, selbst mit den Anfängern die Tuchfühlung nicht zu verlieren. Alexander Henning glich einem gütigen Unterstufenlehrer. Er wurde auf jeden neuen Namen in den Zeitungsspalten aufmerksam, ihm entging kein noch so bescheidener Schreibversuch. Hellhörig, wie er war, nahm er jeden gelungenen Triller, jeden zaghaften Piep wahr. Und er geizte weder mit Lob noch mit wohlgemeinten kritischen Hinweisen. Seine Jahresübersichten der Literaturseiten des „Neuen Leben" und der „Freundschaft", die in den sechziger Jahren regelmäßig erschienen, zeichneten sich durch keine besonders tief greifende Analyse oder strenge Kriterien aus, sie spornten die Autoren jedoch zum Schreiben an, und für uns stellen sie heute wertvolles bibliographisches Material dar.

In den siebziger Jahren veröffentlichte Johann Warkentin mehrere beachtenswerte kritische Arbeiten. Ein überaus talentierter Mensch, ein feinfühliger Kenner der Sprache, ein brillanter Übersetzer der sowjeti¬schen Dichtung ins Deutsche — und zugleich ein Mann von scharfen, kategorischen Urteilen und einer oft subjektiv geprägten Haltung, der oft ausgesprochen intolerant war und sich nicht damit abfinden wollte, daß nicht jeder ein Johann Warkentin sein kann, schwebte er viel zu hoch über dem literarischen Garten, als daß er ihn hätte effektiv pflegen können.

In den siebziger Jahren trat auch Herold Belger, ein Schriftsteller mit einem ungewöhnlichen Schicksal, als Literaturkritiker auf den Plan: Er war als Kind in einen kasachischen Aul geraten, hatte eine kasachische Schule und eine kasachische pädagogische Hochschule absolviert und ist ein bekannter Übersetzer kasachischer Literatur ins Russische. Er, der er nun am Schnittpunkt von drei Kulturen und Literaturen — der kasachischen, der russischen und der sowjetdeutschen — stand, legte eine viel größere Loyalität gegenüber seinen Schriftstellerkollegen an den Tag. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Artikel und Rezensionen zu Werken sowjetdeutscher Autoren. In den keineswegs leichten Jahren der Stagnation geschrieben, konnten sie natürlich unmöglich frei sein von dem Pathos jener Jahre, von den gängigen Richtlinien und Anweisungen, von dem weit verbreiteten Bestreben, sich allerhand vorzuzaubern, von der begeisterten Darstellung der „Erfolge" und „Errungenschaften", also von all dem, was der sowjetischen Literaturkritik in jenen Jahren allgemein eigen war. Sie enthalten jedoch auch realistische Einschätzungen, Hinweise auf Schwächen und Mängel, Verallgemeinerungen und Formulierungen der Entwicklungsrichtungen, und alles in allem ist dies eine Kritik, die, bereits auf einem anderen Niveau, die Linie von Alexander Henning fortsetzte. Herold Belgers Artikel können heute, auch wenn sie kein ganzheitliches Werk bilden, eine bestimmte Vorstellung von den Prozessen vermitteln, die sich in unserer Literatur in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre vollzogen.

Kurzum, die sowjetdeutsche Literatur hatte mit der Kritik hauptsächlich insofern Glück, als sich die Kritik von der Praxis der Literatur nicht zu weit löste und die konkreten Existenzbedingungen dieser Literatur berücksichtigte, nicht aber diese für etwas maßregelte, was sie unmöglich bieten konnte. Man muß jedoch anmerken, daß Literaturkritik bei uns insgesamt recht schwach entwickelt ist. Selbst der Almanach, der durchaus in der Lage ist, deren Niveau wesentlich zu heben, hat an dieser Situation vorerst kaum etwas zu ändern vermocht. Es liegt nicht etwa daran, daß es in der sowjetdeutschen Literatur keine Autoren gibt, die genug Zeit und Muße hätten, sich der Kritik zu widmen, und daß ein Literaturpraktiker es nicht immer für angebracht hält, die Arbeit seiner Kollegen zu bewerten. Selbst jene zwei bis drei Literaten, die imstande gewesen wären, sich mit Erfolg in der Literaturkritik zu betätigen, waren mit anderen, für sie wichtigeren, Dingen beschäftigt, vor allem aber hatten sie keine Möglichkeit, bei der Analyse der Werke auf die tatsächlichen Ursachen dieser oder jener Erscheinungen einzugehen — dies war, wie wir es bei der sowjetischen Literaturkritik der Stagnationszeit insgesamt gesehen haben, eine wenig attraktive Beschäftigung.

Ein besonderer Platz in der sowjetdeutschen Literatur gebührt Woldemar Ekkert. Aus seiner Feder stammen zwar auch Gedichte und Novellen, doch das Entscheidende in seinem Schaffen sind, glaube ich, nicht sie, sondern seine literaturwissenschaftlichen Arbeiten. Er hat umfangreiches Material zur Geschichte der deutschen Literatur in Rußland zusammengetragen und verarbeitet; seine Artikel12 bilden eine Art biobibliographischen Führer durch diese Literatur. Er verfaßte auch eine nicht gerade umfangreiche, aber überaus beeindruckende Monographie über das Leben und Werk des namhaften Literaturwissenschaftlers Franz Schiller13. Gegenwärtig befaßt er sich mit der sowjetischen Periode der Literatur der Rußlanddeutschen, und man kann wohl hoffen, daß die Artikel über die sowjetdeutsche Literatur nach Erscheinen seiner Studie viel gründlicher und vollkommener sein werden als diese Notizen.


Zum Abschluß der Ausführungen über die dritte Etappe unserer Nachkriegsliteratur muß man auch die Ereignisse dieser Periode erwähnen, die nicht nur auf die Literatur, sondern auch auf die sowjetdeutsche Publizistik stark abfärbten. Gemeint ist der Wechsel der Chefredakteure im "Neuen Leben" und in der "Freundschaft“.

Gegen die Mitte 1983 begannen die negativen Eigenschaften von W.I.Zapanow die redaktionelle Arbeit derart zu hemmen, daß seine Ablösung zu einer dringenden Notwendigkeit wurde. Die Entscheidung wurde allerdings bis zum Herbst 1984 hinausgezögert, als in die Redaktion ein neuer Chefredakteur, ebenfalls aus dem Apparat des ZK der KPdSU, kam. Es war W.W.Tschernyschew, einst Eigenkorrespondent der "Komsomolskaja prawda" in der DDR. Leider hatte seine Politik noch schlimmere Folgen als seines Vorgängers. Sein Bestreben, in allem, was die Geschichte und die gegenwärtige Lage der Sowjetdeutschen betraf, eine "ideologische Diversion", eine "Information aus erster Hand für den ideologischen Gegner" zu sehen, lähmte nicht nur die Journalistik, sondern auch die schöngeistige Literatur. Die Furcht vor Problemstellungen, vor einer Bestimmtheit der Positionen in den Artikeln, Gedichten und Erzählungen führte dazu, daß er an allem stets etwas auszusetzen hatte, daß er den Mitarbeitern "politische Kurzsichtigkeit" vorwarf und diese der politischen Illoyalität verdächtigte. Innerhalb einer kurzen Zeit mußten praktisch alle qualifizierten Mitarbeiter (an die Hälfte des Redaktionskollektivs) die Redaktion verlassen, die ihren Grundstock bildeten. Eingestellt wurden in aller Eile und ohne eine gebührende Prüfung meist zufällige Leute - Hauptsache, sie versetzten die Leitung in keine schwierige Situation durch irgendwelchen Ideen und boten nichts an, was konkrete Entscheidungen erforderte.

In der Redaktion blieben auch so gut wie keine Mitarbeiter sowjetdeutscher Abstammung zurück. Der Vorsitzende der Kommission für die sowjetdeutsche Literatur beim Schriftstellerverband der UdSSR, Robert Weber, schrieb im Heft 11 der Zeitschrift "Drushba narodow" für 1988, die Sowjetdeutschen stellten im „Neuen Leben" lediglich ein Viertel aller Mitarbeiter. In der Zeit von der Ablieferung seines Manuskripts bis zu dessen Erscheinen hatte sich dieser Anteil auf ein Zehntel verringert.

Es gibt überhaupt wohl kaum noch eine andere nationale Zeitung in unserer vielsprachigen Presse, deren Redaktion sich fast vollständig aus Vertretern anderer Nationalitäten zusammensetzen würde. Es geht nicht nur um das Mißtrauen des Lesers gegenüber einer solchen Zeitung, sondern vielmehr um deren Kompetenz und Massenwirksamkeit. Es wäre sonderbar, wenn die "Sozialistitscheskaja Industrija" allein von Tierärzten gemacht würde und aus der "Medizinskaja gaseta" die Mediziner und auch all jene vertrieben worden wären, die die Interessen der Patienten verteidigen. Der nationale Charakter, die Mentalität, die Kultur, die Geschichte sind dabei doch viel kompliziertere Erscheinungen, ganz besonders bei einem Volk mit einem solchen Schicksal wie bei den Sowjetdeutschen. Auch die Publizistik, die Ideologie und die Literatur sind keineswegs sehr einfache Sphären. Indes fehlen im "Neuen Leben" praktisch nicht nur nationale Kader, sondern auch Berufsjournalisten und -literaten schlechthin.

 

In der Zeit, da diese Zeilen geschrieben werden, ist der in die menschenleer gewordene Literaturabteilung vorübergehend eingeladene Historiker, Ehemaliger Mitarbeiter der sowjetischen Militäradministration im Nachkriegsdeutschland, aus der Redaktion wieder weggegangen; seinen Platz hat, gleichfalls vorübergehend, ein ehemaliger Militärübersetzer der gleichen Administration eingenommen. Fürwahr, die sowjetdeutsche Literatur und Presse scheinen von einem bösen Geist verfolgt zu sein!

Diese Position des Chefredakteurs gegenüber allem Nationalen in der Publizistik und Literatur, die bis Ende 1987 bestehen blieb, da plötzlich Veröffentlichungen zur Geschichte der Sowjetdeutsuchen für erwünscht und notwendig, hatte sich auch auf den Inhalt des Almanachs sehr stark ausgewirkt. Verächtlichen Hochmut, der Dilettanten eigen ist, rief die gesamte sowjetdeutsche Literatur hervor. Erst recht nach der vorangehenden Beseitigung aller "ideologischen Fehltritte" aus ihren Werken.

Ähnliche Zustände herrschten in jenen Jahren auch in der "deutschen" "Freundschaft", wo A. Schmeljow auf dem Posten des Chefredakteurs durch L. Weidmann abgelöst worden war. Unter ihm wurde so gut wie nichts über die Probleme und die Geschichte der Sowjetdeutschen geschrieben, und auch das Wort "Wolga" durfte nicht erwähnt werden, obwohl es im "Neuen Leben" und in den "Heimatlichen Weiten" längst "salonfähig" war. Der neue Chefredakteur, Konstantin Ehrlich, der 1988 L. Weidmann ablöste und der bis dahin als Redakteur für deutschsprachige Literatur im Verlag "Kasachstan" viel geleistet hatte, ließ die "Freundschaft" auf den Kurs von Perestroika und Glasnost einschwenken. Er setzt sich dafür ein, in den Lesern der Zeitung die Gewißheit wiederaufleben zu lassen, dieser Kurs werde zur endgültigen Wiederherstellung der Gerechtigkeit auch gegenüber den Sowjetdeutschen führen, und hat einmal mehr gezeigt, wie viel in jeder Angelegenheit von demjenigen abhängt, der den Leiterposten einnimmt. Wollen wir hoffen, daß zu dem Zeitpunkt, da dieser Ar¬tikel erscheint, auch die Zeitung "Neues Leben" einen neuen Kapitän erhalten haben wird, der den Erfordernissen der Zeit gewachsen ist...

Als Fazit der dritten Etappe in unserer Nachkriegsliteratur kann man sagen, daß die sowjetdeutsche Literatur in den 34 Jahren seit 1955, ungeachtet der erlittenen Verluste und unter Überwindung gewaltiger Schwierigkeiten, in vielem das Vorkriegsniveau erreicht und in einigen Aspekten (berufliches Niveau der Schriftsteller, das Niveau der Poesie, der Kinderliteratur und der Publizistik) sogar übertroffen hat. Sie setzte soviel Masse an, daß sie unter günstigeren Bedingungen imstande gewesen wäre, die eigene Selbstentwicklung durch Einbeziehung und Erziehung immer neuer Autoren zu sichern.

Die konkreten Bedingungen, unter denen sich die Sowjetdeutschen befanden und auch heute noch befinden, geben aber diesem Resultat auch ihr negatives Gepräge. Immer größere Besorgnis im Hinblick auf das weitere Schicksal unserer Literatur ruft die Tatsache hervor, daß sie sich zunehmend in die Tätigkeitssphäre einer immer geringeren Anzahl von Menschen verwandelt. Für den Status einer normal entwickelten Literatur eines Zweimillionen-Volkes fehlt es ihr nicht nur an Schriftstellern, sondern auch an Lesern. Dies wird besonders augenscheinlich, wenn man deren „Personalbestand", deren Umfang und die Auflagen mit anderen nationalen Literaturen vergleicht.
So besitzen in unserem Land drei Völker, die weniger Angehörige haben als die Sowjetdeutschen, ihre eigenen Unionsrepubliken. Das sind die Kirgisen, die Letten und die Esten. Laut Volkszählung von 1979 zählten die Kirgisen 1,906 Millionen, die Letten 1,439 Millionen und die Esten 1,02 Millionen. 1982 erschienen in ihren Nationalsprachen:
an Zeitungen: in Kirgisien — 61 (einmalige Auflage 757 000);
                      in Lettland — 63 (einmalige Auflage 1 178 000);
                      in Estland — 31 (einmalige Auflage 1 022 000);14
an Zeitschriften:
                     in Kirgisien — 10 (einmalige Auflage 540 000);
                     in Lettland - 21 (einmalige Auflage 1 416 000);
                     in Estland - 19 (einmalige Auflage 658 000);15
an schöngeistiger Literatur (Bücher und Broschüren):
                     in Kirgisien - 173 (Gesamtauflage 4 447 500);
                     in Lettland - 154 (Gesamtauflage 5 685 500);
                     in Estland - 180 (Gesamtauflage 7 941 900).16

Die Sowjetdeutschen zählten 1979, wie die Ergebnisse der gleichen Volkszählung auswiesen, 1,936 Millionen. Sie besaßen 1982 drei Zeitungen mit einer einmaligen Gesamtauflage von rund 100 000, eine Zeitschrift („Heimatliche Weiten"), die damals eine Auflage von 10 000 Exemplaren hatte und inzwischen, nach der Reduzierung des Einzelhandelsverkaufs, auf 6000 Exemplare abgerutscht ist; an schöngeistigen Werken erschienen vierzehn Titel in einer Gesamtauflage von nicht mehr als 50 000 Exemplaren, wobei es ein in dieser Hinsicht recht günstiges Jahr war.

Das heißt, 1982 gab es je Angehörigen der entsprechenden Nationalität
an Zeitungen: bei den Kirgisen rund 65, bei den Letten 150, bei den Esten 206 und bei den Sowjetdeutschen lediglich fünf Exemplare;
an Zeitschriften: bei den Kirgisen 3,3, bei den Letten 13,3, bei den Esten 9 und bei Sowjetdeutschen eben 0,01 Exemplare;
an Werken der schöngeistigen Literatur bei den Kirgisen 2,5, bei den Letten 4, bei den Esten 8 und bei den Sowjetdeutschen 0,025 Exemplare.

Dies bedeutet, daß bei den Kirgisen auf einen Angehörigen 13mal, bei den Letten 30mal und bei den Esten 41mal so viele Exemplare von Zeitungen entfielen wie bei den Sowjetdeutschen. Bei den Zeitschriften betrug das Verhältnis ent¬sprechend 330:1 bzw. 1330:1 und 900:1 und bei der schöngeistigen Literatur 100:1 bzw. 160:1 und 320:1 (und wenn man noch den Umfang dieser Bücher berücksichtigt, ist der Unterschied vielleicht noch fünfmal so groß).

Ich glaube, diese Zahlen geben einen gewissen Aufschluß sowohl über den Weg, den das sowjetdeutsche Volk seit 1941 zurückgelegt hat, als auch über die Situation, in der es sich bis in die jüngste Zeit hinein befand, und über den Zustand seiner Literatur (die Situation in anderen Sphären ist überhaupt nicht vergleichbar, denn andere Sphären existieren praktisch nicht). Diese Angaben, wären sie in jenen Jahren errechnet worden, hätten viele Zeitungsleute davon abgehalten, die auswandernden Sowjetdeutschen wegen des „Verrats an der Heimat" und der „Jagd nach ausländischen Klamotten und einem leichten Leben" anzuprangern und dadurch das Aufkommen zahlreicher böser Emotionen zu verhindern. Derartige Zahlen im Verein mit völligem Fehlen nationaler Mittel-, Fach- und Hochschulen, einer nationalen Kultur, eines nationalen Lebens, ja einer nationalen Laienkunst, hätten zu viel aktiveren Formen des Protests anspornen können als eine stille Auswanderung in die Heimat ihrer Vorfahren.


Die letzte Etappe des Wiederauflebens unserer Literatur war auch mit neuen großen Verlusten verbunden. Aus dem Leben geschieden sind Andreas Saks, Reinhard Köln, Friedrich Bolger, Edmund Günther, David Jost und Willibald Feist; aus Altersgründen in ihrer literarischen Aktivität stark nachgelassen bzw. die literarische Betätigung gänzlich aufgegeben haben Dominik Hollmann, Sepp Österreicher und Karl Welz; Johann Warkentin ist durch seinen Umzug in die DDR aus der sowjetdeutschen Literatur ausgeschieden. Ihren Platz hatte in diesen Jahren niemand eingenommen.

Wie auch vorher, gab es in der Literatur dieser Jahre niemanden (bis auf Robert Weber), der sich ausschließlich der literarischen Arbeit hätte widmen können. Die Literaten wendeten ihre Hauptkräfte nach wie vor in ihrer Arbeit als Lehrer oder Journalisten auf. Nach wie vor wurden keine Kader für die sowjetdeutsche Literatur herangebildet, und nun ist hinter ihrer „jüngeren Generation", die nunmehr auf die Fünfzig zugeht bzw. diese Grenze überschritten hat, so gut wie keine Ablösung sichtbar.

Zu einem chronischen Leiden unserer Literatur wurde der Umstand, daß sie von niemandem auf irgendeine Weise angeleitet, daß in ihr keinerlei organisatorische Arbeit geleistet wurde und sie auch im Schriftstellerverband der UdSSR keinerlei Vertretung besaß. Zum letzten Mal sind unsere Literaten vor fünf Jahren zu einer Arbeitskonferenz zusammengekommen. Die damals gewählte Kommission für sowjetdeutsche Literatur, die beim Vorstand des Schriftstellerverbands der UdSSR wirken sollte, existiert allein auf dem Papier. All das kompliziert die ohnehin schwierige Lage der sowjetdeutschen Literatur ziemlich stark.

6

Vor anderthalb Jahren hätte ich meinen Artikel mit eben einem solchen Akkord abschließen müssen. Zwar bestehen viele der genannten Probleme nach wie vor, doch man kann trotzdem sagen, daß sich die Stellung der sowjetdeutschen Literatur in der Hauptsache von Grund auf zu ändern beginnt. Ich meine das Fundament der Literatur — das Leben ihrer Leser, der Sowjetdeutschen, die Einstellung zu ihren Grundproblemen.

Die Jahre der Perestroika zwingen zu einer Überprüfung vieler Fragen, von denen angenommen wurde, sie wären ein für allemal entschieden. Überprüft wird auch die Frage der Stellung der Sowjetdeutschen in unserem Land. Drei Delegationen der Sowjetdeutschen, die 1988 Moskau besuchten, warfen (zum erstenmal seit 1965) der Staats- und Parteiführung gegenüber erneut die Frage der Wiederherstellung ihrer autonomen Republik an der Wolga auf. Das Plenum des ZK der KPdSU über zwischennationale Beziehungen, das gegenwärtig vorbereitet wird, dürfte diese Frage direkt an eine Lösung heranführen. Für mich persönlich ist dies lediglich eine Sache der Zeit, denn heute, im Laufe der Perestroika, kann sie nicht mehr ungelöst bleiben.

Von einer einschneidenden Wende in der Haltung gegenüber den Sowjetdeutschen zeugen auch die Veröffentlichungen über ihre Geschichte und ihre heutige Situation, die in jüngster Zeit in Zentralzeitungen und -zeitschriften erschienen. Nachdem sie jahrzehntelang als „Handlanger des Feindes" gegolten hatten (der Erlaß von 1964 war ja außer den „Wedomosti Werchownogo Soweta SSSR" und dem NL nirgends veröffentlicht worden und daher auch kaum jemandem außer den Sowjetdeutschen selbst bekannt), bieten sich die Sowjetdeutschen den sowjetischen Menschen endlich wieder als eines der Sowjetvölker dar, das zusammen mit allen anderen das Drama des Personenkults und die Tragödie des Krieges durchgemacht und zusammen mit den anderen einen beachtlichen Beitrag zur Entwicklung der Wirtschaft und der Kultur ihrer sozialistischen Heimat geleistet hat.

Nach der dreißigjährigen Periode ihres Wiederauflebens ist auch für die sowjetdeutsche Literatur eine neue Zeit angebrochen. Eine Zeit, die sich unsereiner vor einigen Jahren nicht einmal in seinen kühnsten Träumen ausmalen konnte. Der Prozeß der Perestroika hat die sowjetdeutsche Literatur endlich von vielen — äußeren wie inneren — Fesseln erlöst und sie sehr nah an eine solche Situation herangebracht, da für die Literatur nur eine einzige, dafür aber die sicherste, Schranke existiert, - nämlich die Gesetze der Literatur, die die Verantwortung für die Ergebnisse des literarischen Schaffens ausschließlich dem Schriftsteller selbst auferlegen.

Als Beginn dieser neuen Periode muß (obwohl in den vorangegangenen dreißig Jahren nicht wenig geleistet wurde, um sie herbeizuführen) meines Erachtens die Veröffentlichung des Poems „Wolga, Wiege unsrer Hoffnung" von Woldemar Herdt in der NL-Ausgabe vom 16. Dezember 1987 angesehen werden. Das Poem, das mit 1942-1943 datiert und als Ortsangabe den Vermerk „Nordural" trägt, fügt vieles zu dem hinzu, was inzwischen schon aus Erinnerungen von ehemaligen Arbeitsarmisten über ihr Heldentum in den Jahren des Krieges, über ihre Heimattreue und über ihre heldenhafte Arbeit für den baldigen Sieg über den Feind sowie darüber bekannt ist, daß sie die haltlosen Anschuldigungen, die gegen sie auf Regierungsebene erhoben wurden, nie akzeptiert hatten, und daß die gesamte Geschichte der Sowjet- und der Rußlanddeutschen diese Anschuldigungen widerlegt.

Sing, Dichter, nicht von Wolgas blauen Fluten,
solang vor mir der dunkle Urwald stöhnt!
Du läßt mein Herz aus deiner Harfe bluten,
mein krankes Herz, das sich schon totgesehnt.

Mit diesen ersten Zeilen stimmt der Autor das ganze Werk auf eine machtvolle und klare Note ein. Und er endet voller Mut und Zuversicht:

Die ewig junge Hoffnung lebt:
Bald muß es anders werden!

In diesem Poem wurde erstmals in unserer Dichtung im Klartext jener Schmerz des sowjetdeutschen Volkes artikuliert, den ich, mir selbst die Kehle zusammendrückend, zwanzig Jahre vor dieser Veröffentlichung in meiner Erzählung „Unser Hof" röchelnd kundzutun versucht hatte, deren voller Text den Leser erst Mitte 1988 erreichte. W. Herdts Poem leitet meines Erachtens in unserer ganzen Literatur eine neue Epoche ein. Ich glaube sogar, auch wenn er in seinem Leben nichts anderes außer diesem Poem geschrieben hätte, wär ihm in unserer Literatur trotzdem für immer ein ehrenvoller Platz sicher gewesen...

Es ist anzunehmen, unsere Literatur werde den Mut, die Kühnheit und das Heldentum ihrer Schriftsteller wie Victor Klein, Woldemar Spaar, Reinhard Köln, Woldemar Herdt und Johann Warkentin einmal nach Gebühr zu würdigen wissen, die in den für sie härtesten Jahren viel getan hatten, um in ihr Ehrlichkeit, Standhaftigkeit und Verantwortungsbewußtsein gegenüber ihrem leidgeprüften Volk zu fördern und aufrechtzuerhalten. Nicht von ungefähr nannte der feinfühlende und kluge Lyriker Viktor Schnittke unsere Nachkriegsliteratur einmal eine Brücke von der ehemaligen Autonomie zu der künftigen. Jawohl, die sowjetdeutsche Literatur der Nachkriegszeit hat die Idee der Wiederherstellung der Autonomie bis in unsere Gegen¬wart bewahrt und vermocht, sie zur Idee des ganzen sowjetdeutschen Volkes werden zu lassen.

Den Aufruf eines der Helden von A. Lonsinger „Nor net loppr ggewa", der Anfang des Jahrhunderts als Aufruf des Schriftstellers selbst an sein Volk ertönte, standhaft zu bleiben und die Hoffnung nicht zu verlieren — diesen Aufruf nahm die sowjetdeutsche Literatur der Nach¬kriegszeit als Programm auf und demonstrierte ihrem Volk ein Beispiel derartiger tätiger Standhaftigkeit.

Mit seinem Poem hat W. Herdt in der blinden Mauer, die unsere Literatur umschloß, gleichsam eine Bresche geschlagen, und in diese Bresche strömte die frische Luft der Perestroika, und man konnte gleich freier atmen, und es kamen wieder Hoffnungen auf, und viele fürchteten nun nicht mehr, laut darüber zu reden, was sich in dem halben Jahrhundert der „nationalen Abkapselung" an Schmerzlichem angesammelt hatte. Ich glaube, wir alle wissen, welch gewaltigen Anstrengungen, wie viel Zivilcourage eine literarische Heldentat manchmal erfordert. Nur ein starkes Herz, das erfüllt ist von der Liebe zum eigenen Volk, vom Bewußtsein der eigenen Verantwortung für dieses Volk, vermag eine solche Tat zu vollbringen.

Der Prozeß der Umgestaltung, der von der sowjetischen Literatur als Ganzes machtvoll unterstützt wurde, die einschneidenden Wandlungen, die in der sowjetdeutschen Publizistik und Literatur begonnen, haben bereits im letzten Jahr die Entstehung einer Reihe neuer Werke bewirkt und vieles von dem bis dahin Geschriebenen in den Hintergrund verdrängt. Zum erstenmal schrieben mehrere Autoren offen und unverblümt über vor kurzem noch tabuierte Zeiten und Ereignisse: über die dramatischen zwanziger und dreißiger Jahre, über die tragischen Vorgänge der Kriegszeit, über die Lager der Arbeitsarmee und deren zahllosen Opfer. Die Arbeitsleistung des Volkes verblaßte in dieser tragischen Umrahmung jedoch nicht im geringsten. Im Gegenteil: Nunmehr in der Situation dargestellt, in der sie tatsächlich vollbracht wurde, beeindruckt sie noch stärker. Und noch deutlicher sichtbar wurde die Gemeinsamkeit des Schicksals der Sowjetdeutschen und aller anderen Völker der Sowjetunion.


Wie ist es nun um die sowjetdeutsche Literatur heute insgesamt bestellt? Was für Besonderheiten weist sie im Zusammenhang mit ihrem Eintritt in eine neue Entwicklungsperiode auf? Was für Probleme stehen vor ihr?

Als Antwort auf die erste Frage kann man nochmals sagen: Die Existenz der sowjetdeutschen Literatur nach siebenundvierzig Jahren einer überaus schwierigen, ungleichberechtigten Stellung des sowjetdeutschen Volkes ist an sich ein bewundernswertes Phänomen; ihre Existenz an sich stellt auch ihre höchste Leistung dar. Eine weitere große Leistung dieser Literatur ist deren Niveau, das in ihren besten Werken dem vieler anderen nationalen Literaturen nicht nachsteht, ganz besonders wenn es um die Poesie geht.

Zu den Besonderheiten der heutigen Etappe unserer Literatur zählt der Umstand, daß sich der mit der Perestroika zusammenhängende Umschwung in ihr vorerst nicht so sehr dank der schöngeistigen wie vielmehr dank der dokumentarischen Literatur vollzieht. Eine Überraschung stellte die Ergänzung des „Personalbestands" der Literatur durch Nicht-Literaten dar: Diese nehmen in ihr heute einen überaus beachtlichen Platz ein. Zu verzeichnen ist auch ein Nachlassen der schöpferischen Aktivität einiger Schriftsteller infolge ihrer Hinwendung zur Publizistik und der Auslastung durch gesellschaftliche Arbeit. Als Resultat ist auch die Bedeutung der schöngeistigen Literatur insgesamt geringer geworden, und zwar bei einer schlagartigen Zunahme der Bedeutung der operativeren Publizistik und Dokumentaristik, was auch für die gesamte sowjetische Literatur kennzeichnend ist.

Einen starken Auftrieb verlieh der Entwicklung der Literatur (wie auch des gesamten kulturellen und nationalen Lebens der Sowjetdeutschen) das Deutsche Dramentheater, das gleichsam als Verstärker ihrer Ideen auftritt. Das Theater, das diese Ideen in seinem flammenden Herzen verarbeitet und in die Herzen seiner Zuschauer hinüberströmen läßt, stand in all diesen Jahren in der vordersten Linie des Kampfes für die Erhaltung und Entwicklung des nationalen Selbstbewußtseins; es förderte und festigte im sowjetdeutschen Volk standhaft und mutig den Glauben an den Triumph der Gerechtigkeit, an den Anbruch besserer Zeiten. Das Theater hat auch schon einen unmittelbaren Beitrag zur Literatur gelei¬stet, nämlich durch einige aktuelle Stücke, die es mit eigenen Kräften schuf.

Was für Probleme stehen nun heute vor unserer Literatur? Das sind in vielerlei Hinsicht ihre alten Probleme: die geringe Anzahl, das hohe Alter und die gesunkene Aktivität eines bedeutenden Teils ihres Kaderbestands; die Tatsache, daß die Literaten übers ganze Land verstreut leben, daß die Kontakte zwischen ihnen erschwert sind, daß es den Schriftstellern an einer richtigen Tribüne fehlt und in der Literatur keine organisatorische Arbeit geleistet wird. Von bedrückender Wirkung auf die Literaten ist, daß die Lösung der Fragen ihrer Tätigkeit, die Bewertung und Veröffentlichung ihrer Werke seit jahrzehntelang vom Willen fremder Leute abhängen, die mit der Literatur kaum etwas gemeinsam haben, und mit der sowjetdeutschen Literatur schon gar nicht17, oder von Presseorganen mit keineswegs literarischer Ausrichtung. Das alles wird mit gutem Grund als Aufrechterhaltung, und zwar eben in der Zentralzeitung der Sowjetdeutschen, des Regimes der geistigen Sonderkommandantur aufgefaßt, die vor dreiunddreißig Jahren die administrative Sonderkommandantur der NKWD ablöste.

Stark spürbar ist das Fehlen eines würdigen Nachwuchses in der Literatur (er ist heute, sei es auch ziemlich real, allein in den Figuren einiger junger Journalisten, Pädagogen und Schauspieler des Deutschen Dramentheaters erkennbar).

Hinzugekommen sind auch neue, bereits mit der Perestroika verbundene Probleme. Es ist schwieriger geworden, ein schöngeistiges Werk zu veröffentlichen — es hält nicht immer der Konkurrenz mit publizistischen bzw. dokumentarischen Arbeiten stand. Merklich gewachsen sind auch die Anforderungen an die schöngeistige Literatur. Die stürmische Entwicklung des gesellschaftlichen und politischen Lebens im Lande verlangt es von den Literaten, Werke mit sehr großen „Aktualitätsreserven" zu schreiben, was vorläufig nicht jedem gelingt, so daß manch ein Werk bereits vor seiner Veröffentlichung veraltet. Veraltet ist auch vieles von dem, was erst vor einigen Jahren verfaßt wurde, in einer anderen Situation und im Einklang mit anderen Kriterien. Dadurch muß häufig auf die Veröffentlichung solcher Werke gänzlich verzichtet werden, oder sie können eben nur in wesentlich gekürzter Form erscheinen.

Gewisse negative Folgen für die Herausgabe von Büchern sowjetdeutscher Autoren hatte auch der Übergang einer Reihe von Verlagen zur wirtschaftlichen Rechnungsführung. Da für die Erforschung der Lesernachfrage und den Vertrieb der sowjetdeutschen Literatur nichts getan wird, sind ihre Auflagen winzigklein, und für die Verlage ist dies eben kein gewinnbringendes Geschäft. Die Lösung mehrerer brennender Probleme der sowjetdeutschen Literatur kommt auch deshalb nicht vom Fleck, weil sie anscheinend mit der Lösung der Hauptfrage — der Wiederherstellung der Autonomie verknüpft wird, die sich immer noch verzögert. Auch die Erwartung der Wiederherstellung der Autonomie hindert einige Schriftsteller an der Realisierung ihrer literarischen Pläne. Auf den normalen Gang des literarischen Prozesses wirkt sich auch die neuerliche Krise in der Redaktion des „Neuen Leben" aus, die durch erwähnte Kaderpolitik in so gut wie absolute Funktionsunfähigkeit gedrängt wurde.

Was könnte helfen, Voraussetzungen für eine normale Entwicklung der sowjetdeutschen Literatur zu schaffen?

Ich glaube, die Wiederherstellung der Autonomie der Sowjetdeutschen, zu der es, davon bin ich zutiefst überzeugt, in allernächster Zeit kommen müßte, wird die wichtigste dieser Voraussetzungen bilden. Aber schon heute kann man, ohne erst diesen Akt abzuwarten, etwas tun, was man sowieso wird tun müssen. Anfangen sollte man mit der Einberufung einer Unionskonferenz sowjetdeutscher Literaten — der ersten in den Jahren der Perestroika, auf der alle in der Literatur vorhandenen Probleme und die Wege ihrer bestmöglichen Lösung erörtert werden sollten. Es ist an der Zeit, eine tatsächlich wirksam arbeitende Kommission für die sowjetdeutsche Literatur beim Vorstand des Schriftstellerverbands der UdSSR zu schaffen (und u. a. auch die Planstelle eines Beraters für sowjetdeutsche Literatur einzuführen).

Längst an der Zeit ist es, eine selbständige Redaktion der Zeitschrift „Heimatliche Weiten" zu bilden und deren Erscheinungshäufigkeit auf vier bis sechs Hefte im Jahr zu vergrößern. Überaus akut ist die Notwendigkeit, eine Zeitschrift für sowjetdeutsche Literatur in russischer Sprache zu schaffen. Viele Pro¬bleme könnten gelöst werden durch die Herausgabe von Werken der sowjetdeutschen Literatur nicht mehr im Verlag „Raduga", sondern — bei gleichzeitiger Steigerung der Auflagen — als Beilage zum Almanach „Heimatliche Weiten", und der Bücher in russischer Sprache als Beilage zur russischsprachigen Zeitschrift.

Bereits in diesem Jahr sollte man an Hochschulen Gruppen aus sowjetdeutschen Jugendlichen bilden mit dem Ziel, Literaturredakteure für Zeitungen, Zeitschriften und Verlage sowie literarischen Nachwuchs heranzubilden und u. a. auch die Möglichkeit eines zwei- bis dreijährigen sprachlichen Praktikums für dieses letzteren in der DDR vorzusehen.

Das alles sollte ohne Aufschub gemacht werden, denn eine baldige Lösung der genannten Fragen wird der Entwicklung der sowjetdeutschen Literatur viele Hindernisse aus dem Weg räumen und sie dazu motivieren, noch aktiver für die Perestroika zu wirken. Und im Hinblick auf die bevorstehenden großen Wandlungen im Leben der Sowjetdeutschen ist hierbei jeder Tag von Gewicht.

***

Dieses Jahr, ein Jubiläumsjahr für das sowjetdeutsche Volk, ist auch für dessen Altersgenossin — die sowjetdeutsche Literatur ein Jubiläumsjahr. Es ist auch noch deshalb ein Jubiläumsjahr, weil vor 65 Jahren das Autonome Gebiet der Wolgadeutschen in die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen umgewandelt wurde. Diese Jubiläumsdaten und die immer neuen Fortschritte, die die Perestroika heute macht, läßt in einem die Hoffnung entstehen, daß dieses Jahr des dreifachen Jubiläums für die Sowjetdeutschen zu einem Jahr wird, in dem die Leninschen Prinzipien der nationalen Politik durch die Wiederherstellung ihrer Staatlichkeit, der autonomen Republik an der Wolga, auch ihnen gegenüber triumphieren werden. Dies aber wird auch den Beginn einer völlig neuen Etappe in der Geschichte unserer Literatur markieren — der Etappe ihrer normalen, durch nichts eingeschränkten Entwicklung.

Wenn dies nun eintritt und wenn die zahlreichen Denkmäler und Büsten, die wir in ferneren und jüngeren Jahrzehnten errichteten und die inzwischen gestürzt sind, in uns durch deren ephemeren Charakter das natürliche Bedürfnis nicht gänzlich getilgt haben, unsere Achtung gegenüber denjenigen zu bekunden, die in unserer Geschichte dieser Achtung tatsächlich würdig sind, dann werden wohl auch in der ASSR der Sowjetdeutschen Denkmäler errichtet werden. Ich glaube, als eines der ersten sollte auch ein Denkmal für die sowjetdeutsche Literatur entstehen.

Ich sehe dieses Denkmal als Figur einer Frau, einer sowjetdeutschen Mutter, die in den Jahren des Krieges und der Arbeitsarmee alle ihre Kinder verlor. Selbst entkräftet und erschöpft, trug sie, ihrer gewaltigen Verantwortung für die Fortsetzung ihres Geschlechts, für die Erhaltung ihres Volkes bewußt, mutig ihr letztes Kind aus; sie widerstand hartnäckig und standhaft allen Versuchen, sie dazu zu zwingen, dieses Kind loszuwerden, und arbeitete ohne Rast und Ruh, um für dieses Kind wenigstens etwas bessere Bedingungen zu schaffen als die, unter denen sie, die Mutter, lebte. Und nun hat das Kind das Licht der Welt erblickt. Es hat schon die Luft der Freiheit eingeatmet, es hat schon seine Stimme ertönen lassen.

Was hält die Zukunft für das Kind bereit?

(Februar 1989)

LITERATURVERZEICHNIS

1Hugo Wormsbecher. Im Anfang war die Tat. „Neues Leben" Nr. 9, 24. Februar 1988.

2Hugo Wormsbecher. Die Sowjetdeutschen: Probleme und Hoffnungen. „Heimatliche Weilen", 1/1988.

3 Georg Luft. Oktoberfunken. In: „Anthologie der sowjetdeutschen Literatur; B. 1. Alma-Ata, „Kasachstan", 1981, S. 160.

4Ebenda, S. 161.

5Siehe: Woldemar Ekkert. Die Literatur der Rußlanddeutschen bis 1917 und der Sowjetdeutschen von 1917 bis 1957. In: „Anthologie der sowjetdeutschen Literatur", B. 1. Alma-Ata, „Kasachstan", 1981, S. 37.

6 Karl Herdt. Wann, wie und wo starb Franz Bach? „Neues Leben" Nr. 46, 9. November 1988, S. 14.

7Friedrich Süptiz. Mit Moskau im Herzen. „Heimatliche Weiten", 2/1986.

8 David Penner. Prokopjewsk, Arbeitsarmee. „Heimatliche Weiten", 1/1989.

9„Hand in Hand". Gedichte und Erzählungen. Moskau, Verlag für fremdsprachige Literatur, 1960, S. 3.

10 Rosa Pflug. Im Recht wie im Unrecht. „Neues Leben" Nr. 4, 18. Januar 1989.

11Hugo Wormsbecher. Deinen Namen gibt der Sieg dir wieder. „Neues Leben", 1975, Nr. 25-36.

12Woldemar Ekkert. Im Dienste der Heimat. „Heimatliche Weiten", 1/1984, 1/1986. Woldemar Ekkert. Bis zum Oktober. „Heimatliche Werten", 2/1986.

13Woldemar Ekkert. Franz Schiller. „Heimatliche Weiten", 1/1983.

14Печать в CCCP B 1982 году. Статистический сборник. M., "Финансы и статистика", 1983, стр. 238.

15 Taм жe, стр. 107.

16 Taм же, cтp. 98.

17 Damit es den Leser nicht verwundert, daß der Autor in solch einem umfangreichen Beitrag praktisch die Rolle der sowjetdeutschen Zeitungen in der Entwicklung der sowjetdeutschen Literatur mit Stillschweigen überging, muß ich sagen, daß diese Rolle, die positive wie auch die negative, der Zeitungen „Neues Leben" und „Freundschaft", wie auch ihrer ehemaligen und heutigen Chefredakteure, aufgezeigt wurde. Doch die heutige Leitung des NL fand, es sei unerwünscht, meine Meinung über ihre „Verdienste" an den Leser zu bringen. Auf meinen Vorschlag, diese meine Meinung, sollte sie nicht richtig sein, im Geiste von Glasnost durch ein Nachwort zu bestreiten, ging sie nicht ein. Also wurden mehrere Seiten des Beitrags gestrichen: Das Sagen in allen wichtigen Almanach-Angelegenheiten hat immer noch die Leitung des „Neuen Lebens". — Anm. des Autors.

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