Wer kennt sie nicht, die glühende Ansprache Marquis Posas an Philipp II. von Spanien aus „Don Carlos“ von Friedrich Schiller mit seinem wunderbaren Appell „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ (1)?

In diesen Tagen der widersprüchlichen Bilder von Pinguinen und einem türkischen Ministerpräsidenten, umjubelt von Menschen, die ihn aus Marokko kommend empfangen, auf der einen Seite, und von mit Tränengas, Schlagstöcken und Wasserwerfern drangsalierten Menschen, beschimpft als „Çapulcu“ („Plünderer“, 2) und sich dieses Schimpfwort als Ehrentitel anheftend (so geht man mit Ausgrenzungen und Denunziationen um! Herrlich!) auf der anderen Seite - denn eine solche Spaltung der türkischen Zivilgesellschaft, die sich gerade zusammen findet und zusammenfindet, soll wieder hergestellt werden (3) -

in diesen Tagen muß ich immer wieder an jenen 3. Aufzug, 10. Auftritt aus „Don Carlos“ denken.

Philipp II. hat den bei ihm in Diensten stehenden Marquis nie persönlich kennengelernt und bestellt ihn zu einem Gespräch ein, in dem Marquis Posa ihm seine Beobachtungen und Gedanken darlegt. Man ersetze im folgenden Text Marquis Posa mit einem „Çapulcu“, Philipp II. mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, Spanien mit der Türkei und „Flamänder“ mit irgendeinem unterdrückten Volk im Vielvölkerstaat Türkei (z.B. den Armeniern oder den Dersimern – oder so vielen anderen, der von Unterdrückung sprechen). Alles weitere ergibt sich von dann selbst.

Marquis Posa („Çapulcu“)

„So viele reiche, blühende Provinzen!
Ein kräftiges, ein großes Volk – und auch
Ein gutes Volk – und Vater dieses Volkes,
Das, dacht' ich, das muß göttlich sein! – Da stieß
Ich auf verbrannte menschliche Gebeine –

(Hier schweigt er still; seine Augen ruhen auf dem König, der es versucht, diesen Blick zu erwidern, aber betroffen und verwirrt zur Erde sieht.)

Sie haben Recht. Sie müssen. Daß Sie können,
Was Sie zu müssen eingesehen, hat mich
Mit schaudernder Bewunderung durchdrungen.
O Schade, daß, in seinem Blut gewälzt, Das Opfer wenig dazu taugt, dem Geist
Des Opferers ein Loblied anzustimmen!
Daß Menschen nur – nicht Wesen höhrer Art –
Die Weltgeschichte schreiben! – Sanftere
Jahrhunderte verdrängen Philipps Zeiten;
Die bringen mildre Weisheit; Bürgerglück
Wird dann versöhnt mit Fürstengröße wandeln,
Der karge Staat mit seinen Kindern geizen,
Und die Notwendigkeit wird menschlich sein.“

Philipp II (Recep Tayyip Erdoğan):

„Wann, denkt Ihr, würden diese menschlichen
Jahrhunderte erscheinen, hätt' ich vor
Dem Fluch des jetzigen gezittert? Sehet
In meinem Spanien Euch um. Hier blüht
Des Bürgers Glück in nie bewölktem Frieden;
Und diese Ruhe gönn' ich den Flamändern.“

Marquis Posa („Çapulcu“):

„Die Ruhe eines Kirchhofs! Und Sie hoffen,
Zu endigen, was Sie begannen? hoffen,
Der Christenheit gezeitigte Verwandlung,
Den allgemeinen Frühling aufzuhalten,
Der die Gestalt der Welt verjüngt? Sie wollen –
Allein in ganz Europa – sich dem Rade
Des Weltverhängnisses, das unaufhaltsam
In vollem Laufe rollt, entgegenwerfen?
Mit Menscharm in seine Speichen fallen?
Sie werden nicht! Schon flohen Tausende
Aus Ihren Ländern froh und arm. Der Bürger,
Den Sie verloren für den Glauben, war
Ihr edelster. Mit offnen Mutterarmen
Empfängt die Fliehenden Elisabeth,
Und fruchtbar blüht durch Künste unsers Landes
Britannien. Verlassen von dem Fleiß
Der neuen Christen, liegt Granada öde,
Und jauchzend sieht Europa seinen Feind
An selbstgeschlagnen Wunden sich verbluten.

(Der König ist bewegt; der Marquis bemerkt es und tritt einige Schritte zurück.)

Sie wollen pflanzen für die Ewigkeit,
Und säen Tod? Ein so erzwungnes Werk
Wird seines Schöpfers Geist nicht überdauern.
Dem Undank haben Sie gebaut – umsonst
Den harten Kampf mit der Natur gerungen,
Umsonst ein großes königliches Leben
Zerstörenden Entwürfen hingeopfert.
Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten.
Des langen Schlummers Bande wird er brechen
Und wiederfordern sein geheiligt Recht.
Zu einem Nero und Busiris wirft
Er Ihren Namen, und – das schmerzt mich; denn
Sie waren gut.“

Philipp II (Recep Tayyip Erdoğan):

„Wer hat Euch dessen so
Gewiß gemacht?“

Marquis Posa („Çapulcu“):

„Ja, beim Allmächtigen!
Ja – ja – ich wiederhol' es. Geben Sie,
Was Sie uns nahmen, wieder! Lassen Sie
Großmütig, wie der Starke, Menschenglück
Aus Ihrem Füllhorn strömen – Geister reifen
In Ihrem Weltgebäude! Geben Sie,
Was Sie uns nahmen, wieder. Werden Sie
Von Millionen Königen ein König.

(Er nähert sich ihm kühn, und indem er feste und feurige Blicke auf ihn richtet.)

O, könnte die Beredsamkeit von allen
Den Tausenden, die dieser großen Stunde
Teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben,
Den Strahl, den ich in diesen Augen merke,
Zur Flamme zu erheben! Geben Sie
Die unnatürliche Vergöttrung auf,
Die uns vernichtet! Werden Sie uns Muster
Des Ewigen und Wahren! Niemals – niemals
Besaß ein Sterblicher so viel, so göttlich
Es zu gebrauchen. Alle Könige
Europens huldigen dem spanischen Namen.
Gehn Sie Europens Königen voran.
Ein Federzug von dieser Hand, und neu
Erschaffen wird die Erde. Geben Sie
Gedankenfreiheit.“

Anmerkungen:

(1) Friedrich Schiller, „Don Karlos“, Reclam-Heftchen. Die zitierte Passage beginnt mit Zeile 3139 (Das ganze Gespräch beginnt mit Zeile 2974)

(2) http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-06/capulcus-pluenderer-istanbul-proteste-erdogan

(3) http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/protest-und-medien-in-der-tuerkei-es-ist-revolution-und-die-reportergehen-weg-12209130.html. Vor ein paar Tagen wurde berichtet, dass in Griechenland der gesamte öffentlich-rechtliche Rundfunk verschwunden ist. Das hieße hier: keine „Tagesschau“ und keine „Tagesthemen“, überhaupt keine ARD mehr? Bislang habe ich immer gehört, die Medien seien „die vierte Gewalt im Staat“, auf der eine Demokratie basiere. Und es gebe ein Recht auf Informationsfreiheit? In Griechenland nun gar nicht mehr?

Nadja Thelen-Khoder

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