Nadja Thelen-Khoder
Zeugnisse – für wen?
Vorschläge für neue Rechenaufgaben in der Mathematik
Jetzt kommen sie also wieder mit ihren Zeugnissen nach Hause. Das Liebste und Beste, was wir haben: unsere Kinder!
Aber manch ein ehemals so stolzer Idoz, der voller Erwartung in die Schule ging, hält ein Zeugnis in den Händen, das ihn weder stolz noch erwartungsvoll aussehen läßt.
Besonders das Fach Mathematik hat schon viele Kinderherzen gebrochen, und ihre Theoreme und Beweisführungen zeigen sich gnadenlos und unbarmherzig: An ihnen führt kein Weg vorbei!
Jeder kennt sie, die interessanten Fragestellungen, mit denen sich unsere Kinder immer wieder herumschlagen müssen. Etwa nach dem Schema:
„Drei Arbeiter bewegen 12 m3 Erde in 5 Stunden. Wie viel Zeit brauchen zwei Arbeiter für 18 m3?“ Dreisatz. Klar. Bei diesen Aufgaben bekam ich immer schon moralische Bauchschmerzen, weil mir zuallererst auffiel, daß hier Menschen zu festen mathematischen Größen, zu kalkulierbaren konstanten Einheiten degradiert wurden.
Niemand fragte, aus welchen Ländern die Arbeiter kamen und ob sie sich vielleicht vor Beginn ihrer Arbeit erst einmal kennenlernen sollten. Da war kein Platz für Gespräche oder Witze; sie waren ein fester Faktor, waren immer gleich arbeitswillig und -fähig, nie krank oder schlecht gelaunt und sprachen offensichtlich alle die gleiche Sprache.
Aber das ist nun einmal so: Zahlen faszinieren die Menschen, und sie numerieren ja sogar Planeten (Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz).
Aber seien wir ehrlich: Können Sie diese eben gestellte Aufgabe einmal eben kurz ausrechnen, so mit Formel in drei Sekunden? Na gut: in einer Minute? Kommen Sie, das haben auch Sie gelernt!
Eben! Sie können das, aber um sich dieses Wissen wieder zu holen, müßten Sie sich jetzt schon ein bißchen hinsetzen, nicht wahr?
Oder nehmen wir einmal folgende Aufgabe: „Konstruieren Sie zu einem Rechteck mit den Seitenlängen 6 cm und 2 cm ein flächengleiches Quadrat! Bitteschön, Sie haben eine halbe Minute Zeit.“ Ihr Kind fragt Sie danach!
Spätestens jetzt spüre ich, wie kalte Schauer verschiedene Rücken hinunter- und wiederheraufjagen, wie sich Finger verkrampfen und wie manch einem der Schweiß ausbricht: Satz des Pythagoras, Thales, Hypotenuse – einige Begriffe schwirren einem wie gierige Geier um das Haupt, und lächelnd strecken einem Formeln wie a2 + b2 = c2 oder noch schlimmere wie a2 =c.p und b2 = c.q die Zunge heraus.
Solche Aufgaben haben mir aber nie irgendwelche moralischen Bauchschmerzen gemacht. Ich konnte zwar nur äußerst bedingt mit ihnen umgehen und wirklich verstanden habe ich sie nie! Aber sie waren und sind für mich (wie etwa die Zahl π ) der lebendige Beweis für die Existenz Gottes, der schon vor Tausenden von Jahren den alten Griechen Kostproben seiner Größe und Weisheit, seiner Vernunft und Wissenschaft offenbarte. Und Gott kann ich ja schließlich auch nicht wirklich verstehen.
Nach einem Wochenende der Kontemplation beginnt man sich auch wieder zu erinnern, und dann fällt es einem wie Schuppen aus den Haaren: Ach ja, genau.
Aber richtig verstehen tue ich es trotzdem nicht, denn es ist wie bei diesen arabischen Mustern: Je länger man hinsieht, desto mehr Formen sieht man, und es werden tatsächlich immer mehr! Gott eben!
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“What was I going to say?”, würde mein Vater jetzt sagen. Ach ja. Da sind eben immer diese Aufgaben, mit denen auch unsere Kinder zwiebelt werden, obwohl man vielleicht auch andere stellen könnte. So erfuhr ich vor einiger Zeit in einer Sendung über das deutsche Bildungssystem, daß es heute in bestimmten Kreisen „in“ ist, seine Kinder auf private Schulen zu schicken. Der Schulbesuch eines solches Gymnasiums mit zwölf Schülern pro Klasse kostet pro Jahr 28000 Euro.
Viele öffentliche Schulen warten durchschnittlich mit einer Klassenstärke von 30 Schülern auf. Wie wäre es da mit folgender Rechenaufgabe:
„Wie viele 28000-Euro-Schüler bzw. deren Eltern müssen auf ihre Privilegien verzichten, damit es allen deutlich besser geht, damit Bildung für alle möglich ist?“
Was verdient ein Lehrer? Nun, das älteste Gewerbe der Welt, wie man den Lehrerberuf mit Sicherheit nennen darf, steht nicht eben hoch im Kurs, und manch ein hoch ausgebildeter Pädagoge lebt von Arbeitslosengeld oder Mini-Jobs und verdient vielleicht 1000 Euro im Monat.
Lassen wir ihn in unserem Rechenbeispiel mehr verdienen, damit man mir nicht Traumtänzerei vorwirft: 2000. Na gut, mit allem Zipp und Zapp: 3000. Na schön, na gut: 4000! Jetz musset ävve och jot sinn!
Wenn man jetzt zwei von diesen „28000-Euro-Schülern“ in eine öffentliche Schule schicken und von ihren 56000 Euro einen weiteren Lehrer in die Klasse holen würde, hätte man auf 32 Schüler zwei Lehrer, also 16 Schüler auf einen Lehrer, und es blieben noch 8000 Euro übrig, etwa für die Anschaffung weiterer Lernmaterialien.
Was soll an dieser Aufgabe so schwierig sein, wer wollte solche Rechenaufgaben nicht lösen? Eine weitere Aufgabe hieße zum Beispiel:
„Konstruieren Sie eine Gesellschaft, in der nicht die soziale Herkunft eines Kindes darüber entscheidet, welche Schulform es besuchen kann und unter welchen Unterrichtsbedingungen es zu leiden hat bzw. welche es genießen darf!“
Denn wenn wir noch mal kurz rechnen: Ein Lehrer auf 30 Schüler sind zur Zeit an öffentlichen Schulen in Deutschland gang und gäbe. Wenn zwei 28000-Euro-Schüler und ein Lehrer dazukommen, sind es zwei Lehrer auf 32 Schüler, also ein Verhältnis von 1:16.
Wenn jetzt noch einmal zwei 28000-Euro-Schüler und ein weiterer Lehrer dazu kämen, wären es 34 Schüler auf drei Lehrer, also weniger als 1:12. Und damit wäre die durchschnittliche Anzahl der Schüler auf einen Lehrer geringer als in den privaten 28000-Euro-Schulen jetzt.
Und es blieben noch 16000 Euro übrig. Dafür könnte man zwar noch einen Lehrer für vier Monate ins Boot holen, aber ich halte nichts von diesen Anstellungen für wenige Monate, gerade in sozialen und pädagogischen Einrichtungen nicht. Erziehung und Pflege haben viel mit Beziehungen, mit Vertrauen, mit Menschlichkeit zu tun, und Bezugspersonen zu wechseln wie die Hemden tut keinem gut.
Zwar kommt es heutzutage immer öfter vor, dass Lehrer Arbeitsverträge bekommen, die (maximal) ein Schuljahr umfassen (oft auch Halbjahre) und pünktlich vor den Ferien enden, so dass die Erzieher unserer Kinder so manches Mal während der Sommerferien Arbeitslosengeld erhalten, um dann wieder neu eingestellt zu werden. Aber diese „Zewa-wisch-und-weg-Methode“ hat unsere Gesellschaft, hat unser Bildungssystem nicht eben besser, geschweige denn menschlicher gemacht.
Geburtenstarke Jahrgänge hockten zu meiner Zeit zu 42 Kindern in einer Grundschulklasse, und manch ein Klassenlehrer klebte auch an den weiterführenden Schulen oft fünf Jahre an ihnen. Wenn man Pech hatte, kam man mit seinem Klassenlehrer „nicht gut klar“ und tat gut daran, freiwillig die Klasse bzw. die Schule zu wechseln.
Daß heute aber immer öfter Anstellungsverträge angeboten werden, die nur wenige Monate (oder gar Wochen) umfassen, halte ich weder für unsere Kinder noch für die Lehrer für zumutbar!
Eben deshalb plädiere ich für neue schöne interessante Rechenaufgaben im Mathematikunterricht:
„Konstruieren Sie eine Gesellschaft, in der nicht die soziale Herkunft eines Kindes darüber entscheidet, welche Schulform es besuchen kann und unter welchen Unterrichtsbedingungen es zu leiden hat bzw. welche es genießen darf!“
Oder:
„Wie viele 28000-Euro-Schüler bzw. deren Eltern müssen auf ihre Privilegien verzichten, damit es allen deutlich besser geht, damit Bildung für alle möglich ist?“
Ich könnte mir vorstellen, daß sich in Zukunft völlig neue Rechenaufgaben stellen - und vielleicht hätten unsere Kinder auch sehr viel Spaß daran!
Anmerkung:
1). http:// commons.wikimedia./org/wki/File:Muster:Arabeske.svg