„Vor allem soll man nicht gleichgültig sein.“
Zur Bundestagswahl am 22. September

1) 

„Rot-rote Machtspiele - Schreckgespenst oder soziale Verheißung?“ hieß die Sendung bei Anne Will, in der am 11.09.2013 Gregor Gysi, Ralf Stegner, Armin Laschet, Gertrud Höhler und Jakob Augstein als Gäste geladen waren2). Leider mußte ich auch in dieser Wahlsendung wieder „Menschen mit Migrationshintergrund“ vermissen – ist es wohl ein Zufall, daß das Wort „Migration“ im Regierungsprogramm der CDU3) gar nicht erst vorkommt?

In dieser Sendung flog mehrfach ein Gespenst über den Bildschirm, das in mehreren Kommentaren zur Sendung [etwa in „Frankfurter Rundschau-online“4) oder in der „Welt“5)] unerwähnt bleibt, für mich aber sehr bemerkenswert ist.

Noch nie wurden wir in Deutschland so häufig mit immer neuen (von wem wann und wozu in Auftrag gegebenen und finanzierten?) „Umfragen“ (also unter meist mehr als fragwürdigen Umständen zusammengeschusterten Befragungen Auserwählter) zugedröhnt wie in den letzten Monaten, und noch nie wurden dabei (sowohl bei den „Befragungen“ als auch bei deren Veröffentlichungen) so permanent wohl formulierte Fragen gestellt, die eines der Lieblingswörter meiner Bundeskanzlerin suggerierten: „alternativlos“. Immer und immer und immer wieder habe ich Sendungen gesehen und ihre Titel gelesen wie „Haben wir die Wahl?“ oder „Wozu noch wählen?“

Daß Angela Merkel ach so beliebt sei, wurde immer und immer und immer wieder behauptet, daß besonders „Frauen“ so fasziniert von ihr seien und den sozialdemokratischen Gegenkandidaten nicht mögen sollen, und daß die Bundeskanzlerin „die mächtigste Frau der Welt“ sei. Ist das wirklich die öffentliche oder vielleicht doch eher die veröffentlichte Meinung?

„Dummdeutsch“6) hieß ein Wörterbuch, das nicht zufällig in den 80er Jahren erschien und das den Vorläufer von Angela Merkel und ihrem „alternativlos“ aufführt. Unter „Sachzwänge“ (zwischen „Rundum-Sorglos-Paket“ und „Saisonbereinigt“) lesen wir: „Meist im Plural verwendet und in der neueren Politik, vor allem von Helmut Kohl – noch häufiger freilich in der Kommunalpolitik. Freie, vernünftige und ergo sachliche Entscheidungen werden heutzutage oft unmöglich wegen juristischer, bauamtlicher, ökonomischer und überhaupt infrastruktureller Sachzwänge, welche als Euphemismus für Unvernunft und Idiotie eben diese beiden gleichsam heiligsprechen. Wenn Politiker und Parteien etwas halt partout nicht mögen, dann fällt dessen Unterbleiben in die Kategorie der Sachzwänge. Unter der Diktatur des Sachzwanges werden Wälder und Alleen abgeholzt, Altmühltäler entschärft und prima Betonlandschaften erstellt – wobei das Zwängende der Sachen oft zu den zwingenden Lösungen führt.“

Heute bedarf es allerdings keiner (vermeintlichen) „juristischer, bauamtlicher, ökonomischer und überhaupt infrastruktureller Sachzwänge“ mehr, um politisches Tun oder Unterlassen zu begründen. Heute genügt der bloße Hinweis darauf, irgendein „wirtschaftliches Interesse“ könne negativ tangiert sein – wobei dieses „wirtschaftliche Interesse“ heute wie selbstverständlich als ein rein privatwirtschaftliches Interesse verstanden wird, das sich ausschließlich an Rendite und Profit orientiert.

Angefangen hat diese „Selbstverständlichkeit“ zu Beginn der 80er Jahre, als Ronald Reagan in den USA, Margeret Thatcher in Großbritannien und Helmut Kohl in Deutschland eine Domäne des Staates (wie etwa Rundfunk, Bildungs- und Gesundheitssystem, Bahn und Post) nach der anderen zu privatisieren begannen. Als Terry Adams von der „Tea Party” 1983 von „shut down the public education“ sprach, war das in Deutschland noch sehr weit weg, und erst die ersten privaten Fernsehsender zu Beginn der 80er machten deutlich, daß nun auch in Deutschland die einzelnen Bastionen auch einzeln fallen sollten.

Eigentlich haben wir ein Grundgesetz, eine Verfassung, die uns staatsbürgerliche Rechte garantiert – dabei steht das Recht des Einzelnen womöglich sogar gegen ein Interesse des Staates, der dann dieses Recht des Einzelnen zu schützen hat. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ lautet der erste Artikel unserer Verfassung, die genau damit der Inbegriff des Gegenteils einer totalitären Gesellschaft darstellt.

In den letzten Jahren haben wir aber erlebt, daß diese Menschenwürde immer mehr zugunsten eines „wirtschaftlichen Interesses“ zurückzutreten hat. Der bloße Hinweis auf vermeintliche Interessen einer „Wirtschaft“ [wahlweise auch „Wettbewerb“ (des Starken mit dem Schwachen, des Kranken mit dem Gesunden, des Reichen mit dem Armen, des Jungen mit dem Alten usw.), „Finanzmarkt“ oder einfach „Märkte“] läßt Forderungen auf Erfüllung des Verfassungsauftrages sofort verstummen. Sollte der Schutz der Menschenwürde (auch nur vermeintlich) teurer sein als deren Verletzung, gilt es immer öfter als zwar bedauerlich, aber eben als „alternativlos“, sie zu verletzen, und unter sogenannten „Sparzwängen“ erleben wir europaweit die Abschaffung unserer demokratischen Grundwerte.

Beispiele:

1. Rundfunk
In Griechenland wurde der komplette öffentlich-rechtliche Rundfunk einfach ausgeschaltet, alle Mitarbeiter entlassen. Monatelang gab es überhaupt keine Nachrichten mehr – auf Deutschland übertragen hieße das: Sendungen wie „Tagesschau“, „Tagesthemen“, „heute journal“, „Weltbilder“, „Titel. Thesen. Temperamente“, „Funkhaus Europa“, „Das Tagesgespräch“ u.v.a.m. (eben alles von ARD und ZDF) wäre einfach verschwunden. Inzwischen arbeiten die Mitarbeiter des griechischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks sämtlich mit auf zwei Monate befristeten Arbeitsverträgen, und man kann sich vorstellen, wie professionell, seriös, innovativ und kritisch eine solche Berichterstattung sein wird.

2. Bildung
Immer mehr Forschungsprojekte (ein Projekt hat immer ein Ziel und wird nur für eine begrenzte Zeit finanziert) beherrschen inzwischen sogar unsere Universitäten. Kann von freier Lehre (Grundgesetz Artikel 5) die Rede sein, wenn unsere Bildungseinrichtungen in immer stärkerem Umfang von finanziellen Zuwendungen privater Geldgeber und anderen Spenden abhängig sind?

3. Gesundheitssystem
Zwei-Klassen-Medizin wird immer häufiger erlebt. „Privat oder Kasse?“ ist eine Frage, die so manches Mal schon am Telefon darüber entscheidet, wie lange man auf einen Termin, also überhaupt auf die Möglichkeit einer medizinischen Versorgung zu warten hat - und die Behandlung selbst unterscheidet sich dann auch noch einmal. Alles mögliche sollen immer mehr Menschen „zusatzversichern“ – wehe dem, der dieses Geld nicht aufwenden kann.

4. Bahn
Ich bin ein alter Knochen und bin mit dem Wahlspruch der Deutschen Bundesbahn „Alle reden vom Wetter – wir nicht!“ groß geworden. Früher kamen die Züge pünktlich, und in bequemen Abteilen entspannen sich früher die schönsten Gespräche, ob sie voll waren oder nicht. An Fahrkartenschaltern konnte ich nicht nur meine Karte kaufen, sondern auch zuverlässige Auskunft über Zugverbindungen und ihre Preise erfahren, während heute an vielen Bahnhöfen lediglich immer wieder defekte und für viele nicht handhabbare Automaten stehen und in „Kundeninformationscentern“ oft die unterschiedlichsten Auskünfte auf ein und dieselbe Frage erteilt werden, und zwar sowohl nach günstigster Fahrstrecke als auch nach deren Preis.

5. Post
Artikel 10 Grundgesetz garantiert das Post- und Fernmeldegeheimnis. Immer wieder habe ich Briefe meiner Nachbarn im Kasten, und so manches Mal werde ich gefragt, warum ich auf Post nicht geantwortet habe. Früher konnte man das nachprüfen lassen. Heute gibt es nicht einmal ein Postamt, wo man einen solchen Überprüfungsantrag stellen könnte.

6. Arbeitsrecht
In Deutschland haben wir keinen gesetzlichen Mindestlohn, in 21 anderen europäischen Staaten dagegen schon. Und so kommen denn Menschen aus verschiedenen Ländern zu uns, weil hier Arbeitgeber Arbeitsplätze zu Bedingungen anbieten dürfen, die in anderen Ländern verboten sind. So werden Arbeiter wieder zu Nomaden und Tagelöhnern, und in Deutschland wächst eine obskure Stimmung gegen die Ärmsten der Armen.

7. Datenschutz
Was bedeutet es, wenn ein Mann wie Ronald Pofalla nach den Enthüllungen von Edward Snowden in die USA fliegt und Angela Merkel nach seiner Rückkehr den „NSA-Skandal“ für beendet erklärt? Inzwischen sind wieder zwei Millionen Kundendaten bei Vodaphone „verschwunden“, und private Interessen standen auch hier wieder dem Datenschutz entgegen. Staatsbürgerliche Rechte müssen auch vom Staat verteidigt werden.

Die Privatisierung öffentlicher Aufgaben ist die Geißel unserer Zeit, in der gleichzeitig das Private, die Privatsphäre des Einzelnen, zu verschwinden droht7). Filme wie „Water makes money“ von Leslie Franke und Herdolor Lorenz8) und „The big sell out“ von Florian Opitz9) veranschaulichen, was Privatisierungen bereits heute anrichten. Wie irgendjemand die Privatisierung von Trinkwasser befürworten kann, ist mir absolut unverständlich!

Im 19. Jahrhundert entwickelte Deutschland ein Sozialversicherungssystem, das lange als vorbildlich galt. Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Tarifverträge mit starken Gewerkschaften – das sicherte lange Zeit den sozialen Frieden. Inzwischen fällt Deutschland hinter diesen Standart zurück, und es gibt immer mehr Menschen, deren stärkstes Gefühl die Angst ist:

Angst um ihren Arbeitsplatz, Angst um ihre Wohnung, Angst, daß ihre Kinder keinen Ausbildungsplatz bekommen, Angst, daß ihre Kinder in keine gute Schule gehen, Angst, krank zu werden – und die Einnahme von Psychopharmaka steigt rapide an. Sogar die Angst, nicht in Ruhe sterben zu dürfen, sondern an irgendwelche Maschinen angeschlossen zu werden, damit der Körper wie ein menschliches Ersatzteillager noch ausgeschlachtet werden kann, nimmt zu. Denn um Organe wie Lunge, Herz, Leber und Niere für eine Transplantation möglichst lange „frisch“ zu halten, werden die „Spender“ möglichst lange z.B. an Beatmungsgeräte angeschlossen. Was mögen die Sterbenden davon noch mitbekommen? Was fühlen Menschen, die im Sterben liegen? Warum werden immer wieder neue „Tests“ gemacht, um einen „Hirntot“ festzustellen – und was haben diese Menschen gefühlt, wenn der erste Test noch „Lebenzeichen“ zeigte und erst einen Tag später nicht mehr?

Gegen diese Angst von Menschen gibt es aber sehr wohl Alternativen. Um die Rechte seiner Bürger auf freie Information, gute Bildung, ein menschliches Gesundheitssystem, einen guten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und auf Post- und Fernmeldegeheimnis schützen zu können, braucht der Staat nicht nur eine gute Verfassung, also guten Willen, sondern u.a. auch Beamte und Angestellte, also Geld. Das bekommt er durch Steuern. Und wenn wir heutzutage erleben, daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden - Heute ist das eine allgemein empfundene und nachweisbare Tatsache, früher wurde ich für diese Aussage als „Kommunist“ beschimpft und sollte „nach drüben“ gehen. Deshalb fand ich auch das oben erwähnte Gespenst mit Hammer und Sichel so bemerkenswert. Was sollte das denn bitte bedeuten? - und daß der Staat den Schutz seiner Bürger immer öfter preisgibt (bis hin zur Polizei, die zu wenig Beamte hat und überlegt, bei welchen Delikten sie nicht mehr rausfahren kann) – dann müssen wohl oder übel manche Steuern erhöht10) und mehr Lehrer, Pflegekräfte, Bahn- und Postbeamte eingestellt werden. (Aber selbst, um seine jetzigen Steuern überhaupt einzutreiben, hat der Staat zu wenig Steuerbeamte.)

„Kaputtsparen“ oder in die Zukunft investieren – das ist hier und jetzt die Frage. Wollen wir immer weitere Teile unseres Staates privatisieren, oder liegt uns das Gemeinwohl am Herzen, die Chancengleichheit, unsere Menschenwürde? Nehmen wir unsere Demokratie ernst, oder lassen wir die Behauptung zu, es gäbe keine Alternative11)?

Am 22. September haben wir die Wahl12).

Nadja Thelen-Khoder

Anmerkungen:

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Ihr Portalteam

1. http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Briefwahl-BTW2013.JPG

2. http://mediathek.daserste.de/sendungen_a-z/328454_anne-will/17037880_rot-rote-machtspiele-schreckgespenst-oder

3. CDU-Regierungsprogramm (http://www.cdu.de/sites/default/files/media/dokumente/regierungsprogramm-2013-2017-langfassung-20130911.pdf); und um der Ausgewogenheit willen gebe ich auch die Links zur
SPD (http://www.spd.de/linkableblob/96686/data/), zur
FDP (http://www.fdp.de/files/408/B_rgerprogramm_A5_Online_2013-07-23.pdf), zum
Bündnis 90/ Die Grünen (http://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Wahlprogramm/Wahlprogramm-barrierefrei.pdf) und zu
„Die Linke“ (http://www.die-linke.de/fileadmin/download/wahlen2013/bundestagswahlprogramm/bundestagswahlprogramm2013_langfassung_barrierefrei.pdf) an.
Es ist wirklich aufschlußreich, manche Wörter zu „suchen“. Denn wer liest schon alle Programme von A bis Z? Aber „Migration“ und „privat“ etwa – das fand ich schon spannend!

4. http://www.fr-online.de/tv-kritik/tv-kritik--anne-will-ueberflieger-und-widersprueche,1473344,24289590.html

5. http://www.welt.de/vermischtes/article119936038/Die-Verrueckten-und-SPD-Hasser-der-Linkspartei.html

6. „Dummdeutsch. Ein satirisch polemisches Wörterbuch“ von Eckhard Henscheid, Carl Lierow, Elesemarie Maletzke und Chlodwig Poth, Frankfurt am Main 1985

7. http://www.afz-ethnos.org/index.php/aktuelles/72-wir-buerger-als-sicherheitsrisiko und http://www.daserste.de/unterhaltung/talk/beckmann/sendung/beckmann-18072013-der-glaeserne-buerger-100.html

8. http://www.watermakesmoney.com/

9. http://www.thebigsellout.org/

10. „Selbstverständlich zahle ich zu wenig Steuern“ sagt Günter Grzega. Er ist Mitbegründer der „Initiative Vermögender für eine Vermögensabgabe“ (http://www.vermoegensteuerjetzt.de/topic/17.reichtumsuhr.html) und „Vorstandsvorsitzenden des Instituts für gemeinwohlorientierte Politikberatung“ und nennt die Rücknahme des Spitzensteuersatzes von 53 auf 42 Prozent in einem Interview mit den „Nürnberger Nachrichten“ (http://www.nordbayern.de/nuernberger-nachrichten/politik/selbstverstandlich-zahle-ich-zu-wenig-steuern-1.2278933) ein „unanständiges Geschenk“.

11. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/stephane-hessels-pamphlet-empoert-euch-1580627.html

12. Aus dem Begleittext zur Sendung „Vor allem soll man nicht gleichgültig sein“: „Im Tischgespräch erzählt Stéphane Hessel über sein beeindruckendes Leben: Er hat in der Résistance gegen die Nazis gekämpft und mehrere Konzentrations-Lager überlebt. Nach dem Krieg arbeitete der Deutsch-Franzose als Diplomat im Auftrag Frankreichs an der UN-Menschenrechts-Erklärung mit. Hessel spricht zudem über die ungewöhnliche Beziehung seiner Eltern, die die Vorlage für Truffauts berühmten Film ‚Jules und Jim’ waren. Der charismatische ‚Ambassadeur de France’ begeistert auch junge Leute durch seine Bereitschaft, sich trotz seines hohen Alters in Politik und Gesellschaft einzumischen. Stéphane Hessel will mit seinem Optimismus anstecken. Sein neues Buch heißt entsprechend: ‚Engagiert Euch!’. Inzwischen ist Hessel zum geistigen Mentor von Tausenden von ‚empörten Bürgern’ geworden, die in Madrid, Athen und anderen europäischen Städten auf die Straße gehen.“ (Download unter http://www.wdr5.de/sendungen/tischgespraech/s/d/27.02.2013-20.05.html)