Wir sind alle Armenier!

Von „Aghet“(1), „Tertêle“ (2) und „Shoah“ (3)
oder
„Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ (4)

Der 24. April in der Armenischen Gemeinde Köln „Der 24. April 1915 bezeichnet den unüberbrückbaren Bruch einer Vernichtung, die nicht an der Schwelle des Todes endete, sondern sämtliche Fundamente einer Gemeinschaft zerstören sollte: Familie, Sprache, Kultur und die Hoffnung auf eine Zukunft. An diesem Tag veranlasste die jungtürkische Regierung des Osmanischen Reiches die Verhaftung, Deportation und Ermordung armenischer Künstler, Schriftsteller, Politiker und Repräsentanten des öffentlichen Lebens in Konstantinopel.“ So stand es in der Einladung zur diesjährigen Gedenkfeier am 24. April der Armenischen Gemeinde Köln.

„Ich habe meine Totenkopfverbände bereitgestellt, um unbarmherzig Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung in den Tod zu schicken.“ Diesen Satz sagte Adolf Hitler am 22. August 1939, wenige Tage vor dem deutschen Überfall auf Polen. Und wenig später fügte er hinzu: „Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Kürzer kann man nicht begründen, weshalb wir uns immer und immer und immer wieder an die Kriege und Massenmorde erinnern müssen. „Heute weiß man, daß das Schweigen über den Genozid an den Armeniern Hitler in seinen Plänen zur Vernichtung der Juden bestärkt hat. (Er rechnete) mit dem Desinteresse der Welt“, schreibt Karen Krüger in ihrem Artikel in der FAZ (5).

„Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Hunderttausende, wie etwa die Teilnehmer an der Beerdigung des 1997 auf offener Straße erschossenen armenischen Journalisten Hrant Dink (6) – aber die offizielle Türkei nicht.

Der Komitas-Chor der Armenischen Gemeinde Köln unter der Leitung von Artak Voskanian, der die Gedenkveranstaltung in der Armenischen Diözesankirche mit Komitas’ „Karuna“ einleitete, mit Yeranyans „Kilikya“ und dem Lied „Adanayi Voghpe“ begleitete und mit dem Kyrie Eleison, der „Voghormya“, abschloß - aber die offizielle Türkei nicht.

Berta Arapoglu, die „Etwas Schreckliches geschieht dort unten“ von Vahan Tekeyan vortrug - aber die offizielle Türkei nicht.

Minu Nikpay, Vorsitzende der Armenischen Gemeinde Köln, die sich über die volle „Surp Sahak Mesrop“ (ehem. St. Christophorus) freute und die Vertreter verschiedener Parteien, Vereinen und Verbänden begrüßte - aber die offizielle Türkei nicht.

Andreas Hupke, Bezirksbürgermeister von Köln-Deutz, der auch von seinen ureigenen Erfahrungen als Geschichtsstudent an der Universität zu Köln in den 70er-Jahren erzählte, als der Umgang mit der deutschen Geschichte insbesondere des Nationalsozialismus von älteren Professoren ebenfalls behindert wurde. „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ – diese Parole der Studentenrevolte fiel mir dazu ein. Ihn habe der Film „Aghet. Ein Völkermord“ (1) von Eric Fiedler sehr berührt, führte Andreas Hupke (Bündnis 90/ Die Grünen) aus. Das Unwissen über diese türkische und deutsche Geschichte sei immer noch gewaltig und unsere gemeinsame Verantwortung groß.

Prof. Dr. Hans Lukas Kieser, Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, der zunächst sagte, daß am Vortag die erste offizielle Gedenkfeier in der Türkei in Diyarbakir stattgefunden habe. In Deutschland habe die Erklärung des Deutschen Bundestages vom 15. Juni 2005 einen „jahrzehntelangen Sprechstau“ gelöst, aber es bliebe, „die Wahrheit als lebendigen Stachel im Fleisch wachzuhalten“.
In einem 40minütigen Vortrag legte er die schrecklichen Ereignisse der Jahre 1915-17 dar und sprach vom „moralischen Genickbruch“ der Deutschen Armee im Ersten Weltkrieg, die mit den Türken verbündet war, oder „Lost of Soul, wie amerikanische Historiker sagen würden“.
Hier dachte ich an den Satz „Die Deutschen, die Türken und der Teufel selbst hatten sich zu einem Dreierbündnis zusammengefunden“. So zitiert der Film „Aghet. Ein Völkermord“ (1) Tacy Atkinson, eine amerikanische Missionsschwester in Harput von 1902-17.
Auch Prof. Kieser betonte den Zusammenhang mit den Völkermorden der deutschen Nationalsozialisten.

Ilys Uyar, Vorsitzender des Diözesanbeirats der Armenischen Gemeinde, der mehrere Beispiele dafür gab, wie auch heute noch Armenier in der heutigen Türkei diskriminiert werden. „In der Türkei Armenier zu sein bedeutet“ – so begannen mehrere seiner Ausführungen, etwa zu negativen Darstellungen dieses Volkes und dessen Geschichte in den Schulbüchern und anderen Medien der Türkei (7); „und Du guckst verstört auf Deine Kinder in der Hoffnung, daß sie Dich nicht angucken“. Denn wenn die Kinder etwa sagten: „Ich möchte einmal Bürgermeister werden“, denke man sofort „Hier geht das nicht.“ Und wie solle man das den Kindern sagen?

Und ich musste wieder an „Aghet. Ein Völkermord“ (1) denken, den Film, in dem Samantha Power, die außenpolitische Beraterin von US-Präsident Obama, sagt: „Stellen Sie sich das einmal vor: Sie überleben einen Völkermord und leben mit diesen Erinnerungen. Sie erzählen, was Ihnen tatsächlich passiert ist. Und dann sagt man Ihnen: ,Ihre Wahrheit stimmt so nicht, ist subjektiv oder zu emotional, zu ungenau. Das ist verheerend.“

„Man muß einfach mal die Wahrheit akzeptieren“, betont im Film auch Arthur Abraham, der Boxweltmeister aus Armenien. „Es ist ein trauriges Gefühl – so, als ob jemand von der eigenen Familie gestorben ist.“

Aber nach wie vor weigert sich die offizielle Türkei, den Völkermord an den Armeniern, dem über eine Millionen Armenier zum Opfer fielen, anzuerkennen. „Kommen Sie und legen Ihre Beweise vor“, ruft der türkische Ministerpräsident Recep Tayyib Erdoğan im Film– dabei liegen in den Archiven Tausende Schriftstücke (8), zahlreiche Veröffentlichungen weisen auf die Notwendigkeit der Aufarbeitung dieser Geschichte hin (9-11) und die Wahrheit kommt nach und nach ans Tageslicht.

Delal Dink sagt in „Aghet. Ein Völkermord“ über ihren Vater Hrant Dink (12): „Er sagte immer: Geht nicht davon aus, daß sie die Tatsachen leugnen. Sie leugnen etwas, über das sie so gut wie nichts wissen. ... Ich will, daß die ganze Bevölkerung erfährt, was geschehen ist und wer es war. Und ich will sicher sein, daß es nie wieder passiert.“

„Wer die Opfer vergisst, der tötet sie noch einmal“, sagte Minu Nikpay in ihrer Rede und begrüßte besonders Doğan Akhanlı (13), der 2010 in der Türkei verhaftet wurde und monatelang im Gefängnis saß, dann nach internationalem Protest freigelassen wurde und jetzt erneut angeklagt wurde. Sein neues Theaterstück heißt „Annes Schweigen“ (14).

Die Teilnehmer beteten einzeln und gemeinsam mit Pfarrer Hratch Biliciyan und anderen Geistlichen aus der armenischen Liturgie, und der Geruch von Weihrauch und die Worte der Trauer, der Liebe und des Friedens drangen tief in meine Seele.

Walter Rössler, Kaiserlich-deutscher Konsul in Aleppo 1914-23, berichtete damals: „Nicht einer, sondern mehrere Beamte sollen getötet worden sein, weil sie nicht erbarmungslos gegen alle Armenier ihres Bezirkes vergingen.“
Auf solche Beamte kann ein Staat stolz sein, so wie Deutschland stolz sein kann auf jeden Deserteur, der sich 1939-45 den entsetzlichen Angriffskriegen Nazi-Deutschlands entzog. Und ich sage dies keineswegs, um diese geschichtlichen Ereignisse miteinander zu vergleichen. Die Greueltaten der Deutschen in diesen Jahren sind mit nichts zu vergleichen!

Es geht mir nur um die unsäglichen Vorwürfe, denen sich Menschen ausgesetzt sehen, die für die Aufarbeitung der Geschichte eintreten. In der Türkei spricht der §301 (15) von „Beleidigung des Türkentums“, und auch in Deutschland hört(e) man immer (mal) wieder von „Nestbeschmutzern“, „Vaterlandsverrätern“ (16) und „Beleidigung der Wehrmacht“ (17) oder der Deutschen Bahn (18).

Aber nicht die Wahrheit der Geschichte ist eine „Beleidigung“, sondern deren Leugnung ist eine Beleidigung der Opfer. Und sie ist gefährlich, denn Opfer können alle werden, wenn wir zulassen, daß einzelne Gruppen, daß Minderheiten ausgegrenzt werden. Wie hatte Adolf Hitler gesagt? „Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?“

Wir! Wir alle! Wir alle sind Armenier!

Unter http://www.ndr.de/kultur/kino_und_film/ndr_produktionen/aghet/voelkermord110_p-4.html findet sich eine Karte, die die Deportationsrouten der Armenier zeigt. Sie führen zum Teil um Dersim herum, das, hoch in den Bergen gelegen, zunächst verschont blieb. Einigen Armeniern gelang die Flucht, und diese Überlebenden des Völkermordes am ältesten christlichen Volk der Welt fanden zunächst Schutz bei den alevitischen Dersimern. Bis zur Tertêle 1937/38 (19) – dann war das nächste Volk schutzlos der Vernichtung ausgesetzt. Zur selben Zeit brannten in Deutschland die Synagogen.

Am 24. April waren auch Menschen aus Dersim in der „Surp Sahak Mesrop“, und wenn die Dersimer am 4. Mai der Tertêle ab 14 Uhr in Köln vor dem Kölner Dom gedenken, geht das uns alle an. Und wir sind da, um die Opfer nicht allein zu lassen, die in uns weiterleben. Wir sehen ihre Tränen, hören ihre Schreie und fühlen ihren Schmerz. Ihre Sterne funkeln (20) in Glaube, Liebe und Hoffnung, mit Herz, Verstand und Seele (21), in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und unsere Kerzen brennen, eine an der anderen angezündet, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amin!

Nadja Thelen-Khoder

Anmerkungen:

(1) „Aghet“ ist ein armenisches Wort und bedeutet „Katastrophe“. Es bezeichnet den Völkermord in den Jahren 1915-17, dem die Armenier am 24. April gedenken. Der gleichnamige 90minütige Dokumentarfilm „Aghet. Ein Völkermord“ von Eric Fiedler, der inzwischen mehrfach ausgezeichnet worden ist., lässt (wie die großartigen Dokumentationen von Heinrich Breloer) Augenzeugen wieder lebendig werden. Allein der Trailer (ihn und viele Informationen zum Film unter http://www.ndr.de/kultur/kino_und_film/ndr_produktionen/aghet/aghet102.html) führt intensiv in die Thematik ein. Die DVD ist im Handel erhältlich.

(2) „Tertêle“ ist ein Wort aus der ureigenen Sprache der Dersimer (Kırmancki/ Zazaki) und bedeutet „Tag, an dem die Welt unterging“. Es bezeichnet den Völkermord in den Jahren 1937-38, dem die Dersimer am 4. Mai gedenken Der Dokumentarfilm „Iki tutam saç“ („Zwei Bündel Haare“) von Nezahat und Kazım Gündoğan erzählt die Leidensgeschichte von Mädchen, die von türkischen Soldaten verschleppt wurden. Die DVD mit deutschen Untertiteln ist über die Dersim-Gemeinden (siehe auch http://www.dersiminkayipkizlari.com/?module=videos&action=liste) erhältlich.

(3) „Shoah“ ist ein Wort aus dem Hebräischen und bedeutet „das Unheil“ oder „die Katastrophe“. Es bezeichnet den Völkermord an den europäischen Juden im deutschen Nationalsozialismus, dem Deutschland auch offiziell am 27. Januar gedenkt. Filme wie „Nacht und Nebel“ und „Shoah“ dokumentieren dieses grauenhafte Verbrechen der Deutschen und sind auch über die Bundeszentrale für politische Bildung erhältlich (http://www.bpb.de/lernen/unterrichten/146441/nacht-und-nebel).

(4) Adolf Hitler am 22. August 1939, wenige Tage vor dem deutschen Überfall auf Polen.

(5) http://www.faz.net/artikel/C30297/voelkermord-an-den-armeniern-das-letzte-was-ich-von-den-kindern-sah-30071474.html

(6) http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-18813.html

(7) Unter „Die Erziehung zum Nationalstolz“ (6.5) schreibt Yaşar Kaya, ehemaliger Vorsitzender der Föderation der Dersim Gemeinden in Europa e.V. (FDG), in seiner Diplomarbeit (http://www.dersimweb.de/Deutsch/kayadiplom.pdf): „In den Fächern Türkisch, Geschichte und Nationalsicherheit werden extreme Ideen zur Türkisierung unterrichtet. Nach türkischem Erziehungsziel müssen alle Schüler darauf stolz sein, Türke zu sein. Natürlich fühlen sich die jugendlichen Angehörigen der Minderheiten dadurch diskriminiert und herabgesetzt. Die türkische Assimilationspolitik wird teilweise auch in Deutschland unter dem Mantel des Faches Ergänzungsunterricht Türkisch weiter geführt.“

(8) http://www.ndr.de/kultur/kino_und_film/ndr_produktionen/aghet/aghet108.html

(9) SPIEGEL http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-69821820.html

(10) ZEIT http://www.zeit.de/kultur/film/2010-04/zdf-film-armenier-voelkermord

(11) FAZ http://www.faz.net/artikel/C30297/voelkermord-an-den-armeniern-das-letzte-was-ich-von-den-kindern-sah-30071474.html

(12) http://www.spiegel.de/fotostrecke/fotostrecke-18813-4.html

(13) http://www.das-kulturforum.de/archiv/solidaritaet-dogan-akanli/

(14) www.annesschweigen.blogspot.de

(15) http://www.wilfried-eggers.de/paragraf_301.html

(16) Auch der damalige Bundeskanzler Willy Brandt wurde für seinen Kniefall 1970 in Warschau als „Vaterlandsverräter“ beschimpft, bevor er zwei Jahre später für seine Politik den Friedensnobelpreis bekam: http://www.hdg.de/lemo/objekte/pict/BiographieBrandtWilly_photoBrandtKniefallBubi/index.html

(17) http://de.wikipedia.org/wiki/Wehrmachtsausstellung

(18) http://www.zug-der-erinnerung.eu/ und http://www.wdr5.de/sendungen/neugier-genuegt/s/d/15.02.2013-10.05/b/der-zug-der-erinnerung-und-seine-schwierige-fahrt.html

(19) Beschluss des Ministerrates vom 4 Mai 1937 unter http://www.dersim-tertele.com/sites/default/files/Beschluss%20des%20Ministerrates%20vom%204%20Mai%201937.pdf

(20) http://www.migrapolis-deutschland.de/index.php?id=2276

(21) http://dersim-tertele.com/sites/default/files/Bevor%20die%20letzten%20Zeugen%20von%20uns%20gegangen%20sind....pdf