Russlanddeutsche Kulturgeschichte


VON DER WARTE DES SORGENVOLLEN HEUTE

ÜBER HUGO WORMSBECHERS ERZÄHLUNG „UNSER HOF"

Sage von einer zerstörten Kindheit, so könnte man wohl diese Erzählung von Hugo Wormsbecher umbenennen. Oder auch Tiefe Narbe. Mehrere Titel bieten sich an, und es ist nicht so einfach, einem von ihnen den Vorzug zu geben. Man zögert bei der Wahl, wie man bei einem bewegenden, tiefempfundenen, aber nicht eindeutigen, gemischten Gefühl Schwierigkeiten hat, es in ein Wort zu kleiden, das alle seine Bestandteile beinhalten würde.

Auch mit seiner neuen Erzählung wollte Hugo Wormsbecher einige Ereignisse aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges dem Leser ins Gedächtnis zurückrufen. Doch diesmal tat er es auf eine besondere Art: aus der Sicht eines Kleinkindes, mit anderen Worten — wie es seine Generation erlebt hatte.

Die Aufnahme großer Ereignisse durch den Einzelnen hängt einerseits, auf dem niederen, auf Selbsterhaltung abgestimmten Bewußtseinsniveau, vor allem davon ab, welche Rolle diesem Einzelnen bei ihrer Abwicklung zufällt. Andererseits aber, auf der höheren Bewußtseinsstufe, treten höhere Begriffe in Kraft, der Mensch reagiert als ein soziales Wesen, als Staatsbürger, als Angehöriger seiner Klasse und seines Volkes. Dieses höhere Bewußtsein entwickelt sich aber erst mit dem geistigen Reifen des Menschen; einem Kleinkind kann es unmöglich eigen sein.

Das behält Hugo Wormsbecher im Auge, als er seinen kühnen Versuch unternimmt, über die schwersten Anfangsjahre des Krieges aus dem Munde eines Kindes zu berichten. Das vom kriegsbedingten Ausnahmezustand geprägte Geschehen wird durch das feinste Sieb der kindlichen Aufnahmefähigkeit durchgelassen. Mit Vorgängen konfrontiert, denen weder sein Verstand noch sein seelisches Vermögen gewachsen ist, für die es nicht einmal den Namen weiß, legt das kleine Fritzchen alles auf seine kindliche Weise aus, aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen, die bis zum Tage der Abreise vom heimatlichen Hof durchaus sonnig waren. Ihm bleibt noch verborgen, was seine erwachsene Umgebung schmerzlich trifft: Trostlose Trauer über den Verlust der Nächsten. Schwarze Kopftücher der über Nacht verwitweten Frauen. Stummes Staunen über den blinden Zufall, der einem seelenstarken und tatkräftigen Menschenfreund das Leben raubt, tiefe Dankbarkeit gegenüber den Mitbürgern, die das schwere Los der Verunglückten mildern. Das alles empfindet aber der verständnisvolle Leser, und für diesen Effekt müssen wir dem Autor Anerkennung zollen. Insbesondere auch dafür, daß sich über alles Unheil wie eine schützende Hand die Liebe zur Heimaterde streckt, verkörpert im Bewußtsein des Kindes — man könnte auch sagen, Wormsbechers „lyrischen Helden", denn die ganze Darstellung wird stark von poetischer Verdichtung geprägt — durch den elterlichen Hof und viele herzbewegende Erinnerungen und Traumbilder, die damit verbunden sind.

Die von Hugo Wormsbecher gewählte Methode verdient eine aufmerksame Betrachtung. Inwiefern hat er seine Aufgabe dadurch erleichtert oder erschwert? Auch diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, es sei denn, man zerlegt sie in zwei Teile, den inhaltlichen und den künstlerischen. Inhaltlich erleichterte sich der Autor die Aufgabe, denn die Geschehnisse, die den Hintergrund der Erzählung bilden, in der üblichen beschreiblichen Art zu schildern wäre so gut wie unmöglich gewesen.

Die Erleichterung der Aufgabe des Chronisten stellte aber um so größere Anforderungen an den Künstler. Inwiefern ist der Autor ihnen gerecht geworden? Eine gute Erzählung von einer weniger guten zu unterscheiden ist im Grunde gar nicht schwer. Es genügt, die Frage zu stellen, ob einem weniger sparsam mit seinen Mitteln umgehenden Schreiber der vorliegende Stoff zu einem Roman ausgereicht hätte oder nicht. Diese Frage läßt sich mit Bezug auf Wormsbechers „Unser Hof“ bedenkenlos bejahen.

Hugo Wormsbecher, wie übrigens viele Schriftsteller, hat eine langjährige Schule der Journalistik hinter sich. Die Journalistik erzieht bekanntlich zur kurzen Schreibweise, doch Jeder macht seine Lehre auf eigene Art durch. Der Verfasser dieser Zeilen hatte Gelegenheit, Hugo Wormsbechers Weg als Journalist von Anfang an zu verfolgen. Um der Gerechtigkeit willen muß festgestellt werden, daß Hugo Wormsbecher als Zeitungsmann nicht besonders produktiv gewesen ist. Seine Feder war nicht flink genug, um „heiße Nachrichten“ zu liefern, um operative Journalistenarbeit zu leisten. Der herkömmlichen, erprobten Berichterstattungsmethoden wollte er sich nicht bedienen und war immer auf der Suche nach etwas Einmaligem. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung „Deinen Namen gibt der Sieg dir wieder", die ihn eine langwierige und mühsame Arbeit kostete.

Hugo Wormsbecher hatte keine deutsche Schule besucht. Er hatte nicht einmal Germanistik studiert, wie das bei den meisten anderen Jungen sowjetdeutschen Literaten der Fall ist. Um so anerkennenswerter ist seine Leistung als deutschschreibender Autor, der es versteht, nicht nur seine Gedanken und Empfindungen in einem allgemeinverständlichen Deutsch zu Papier zu bringen, sondern sie auch in künstlerisch wirksame Form zu kleiden. Mögen seine Ausdrucksmittel mitunter auch begrenzt sein, aber gerade im Falle seines neuen Werkes, wo die Welt durch die Erfahrungen eines Kindes erforscht wird, gelingt es dem Autor, mit beschränkten Mitteln den erwünschten Effekt zu erreichen.

Es ist an dieser Stelle kaum zweckmäßig, den Inhalt der Erzählung in Kürze nachzuerzählen. Eine allbekannte Geschichte: der verbrecherische Einschlag der faschistischen Aggression, das Verlassen des eingewohnten Nestes, Schwierigkeiten des kalten sibirischen Winters — vielleicht bei Wormsbecher stellenweise zu dicht gedrängt. Aber seine bescheidene Schöpfung erhebt keinerlei Anspruch auf Verallgemeinerung, nicht umsonst handelt es sich bloß um die Eindrücke eines unmündigen und schutzlosen Menschenkindes. Das Wesenhafte bei Wormsbechers Darstellung der harten Wirklichkeit, abgesehen von rein künstlerischen Aspekten, besteht darin, daß die Teilnahme des Lesers immer wieder wachgerufen wird durch die stumme Frage: mußte es so sein? Na ja, ein Rückblick wirft neues Licht auf das Geschehene, damals aber stellte sich niemand diese Frage, weder der hochgeachtete Lehrer, der zur Schwerarbeit in der Taiga mobilisiert wurde, noch seine gütige geduldige, immer um die anderen besorgte Frau, die bis zuletzt ihre Pflicht tat nicht nur als Mutter, sondern auch und vor allem als Sowjetbürgerin, noch Großväterchen Semjonytsch und seine Alte, die ihre letzte Krume Brot und Obdach mit den evakuierten Deutschen teilten. Allen ging es vor allen Dingen um den Sieg über den verhaßten Feind, niemand klagte über sein persönliches Mißgeschick. Nur die Kleinsten ahnten nichts davon, was in der Welt geschah, ihre naiven Vorstellungen drehten sich um die vertrauten Dinge ihrer Kinderwelt, und das verleiht dem Werk erst recht seine Dramatik.

Der Umstand, daß Hugo Wormsbecher selbst zu der Generation gehört, die den Krieg im zarten Alter erlebte, hat gewiß etwas zu sagen, ist aber nicht entscheidend dafür, daß „Unser Hof“ als eine bemerkenswerte Erscheinung der neuesten sowjetdeutschen Prosa bezeichnet werden kann. Entscheidend für den Erfolg einer künstlerischen Leistung ist nachhaltendes Mitgefühl und Mitdenken mit der breiten Volksmasse, die dasselbe Erlebnis mitsamt seinen Nachwirkungen in sich trägt. Die Volksverbundenheit eines Schriftstellers setzt sich aus verschiedenen Faktoren zusammen, doch der bedeutendste, wenn auch nicht immer der entscheidende davon ist, mit wie vielen Herzen sein Herz in gleichem Rhythmus und Tonfall schlägt.

Was aber der Auftritt unseres Autors mit dieser Erzählung im vierzigsten, im Jubiläumsjahr unseres Sieges über Nazideutschland im breiteren Sinne bedeutet, das hat Hugo Wormsbecher selbst in seinem Nachwort verdeutlicht: „Wir Sowjetmenschen wissen, daß der Krieg... Unheil in jeden Hof, in jedes Haus, in jede Familie bringt... Heute ist es wohl mehr denn je klar, daß ein Krieg, falls er ausbrechen sollte, den Hof der ganzen Menschheit bedrohen wird. Wir dürfen nicht zulassen, daß das Tor unseres gemeinsamen Hofes noch einmal für das Böse geöffnet wird“

Alexey DEBOLSKI

(„Neues Leben“ 1984 № 50)